Indie-AutorInnen schreiben – Isabella Breier (22)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist. Beim Hotlistblog kommen die fertigen Werke, Romane, Erzählungen, Lyrik, so benannter AutorInnen in die schmucke Auslage. In dieser Prosa-Reihe bitten wir sie um Unveröffentlichtes, Einblicke in Schreibprozesse oder Auszüge aus Romanprojekten.

(22)

Odyssee und Ulysses bekommen ernsthafte Konkurrenz, ist zu lesen. Unserer heutiger Gast, die österreichische Schriftstellerin Isabella Breier, nimmt es in ihrem 2017 im Verlag Bibliothek der Provinz erschienenen monumentalen und herausfordernden Werk DesertLotusNest locker mit den beiden Weltklassikern auf.
Dabei ist das DesertLotusNest schlicht der Name für eine Arbeitslosenmaßnahme, die aber in einen riesigen, mäandernden philosophischen Überbau eingebettet wird. Hinter diesem steckt das Denkergenie Antoine Bachsirad, von dem man freilich bis dato noch NIE etwas gehört hat. Breier ändert das auf vielfältige Weise – mit einem staunenswerten sprachlichen, formalen und typografischen Arsenal und einem schillernden Personal. „Bachsirad liebte es, in und auf allzu gerade Gedankenbahnen Hürden zu hieven, er liebte es, seine eigenen fließenden Überlegungen ruckartig zu stauen oder schroff fortströmen zu lassen, liebte es, zu stören, wenn’s gar zu friedlich schien im Text.“

In ihrem aktuellen Romanprojekt geht Isabella Breier genauso ganzheitlich, assoziativ und ausgetüftelt zur Sache. Der schmerzende Kopf einer Ich-Figur setzt sich ab und „schwirrt durch die Jahre“. Der Text ist ebenso „Verfallsgeschichte“ wie Spurensuche, wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Praxis des „Verschwindenlassens“ (Desaparecidos) während der argentinischen Militärdiktatur, verkörpert in dem kleinen Kind mit Hund am Strand, „das mit seinen neuen Eltern in Europa ein anderes Leben anfängt“.

noch viel Spielraum, bis ich weiß

Zieh ich durch Zeiten, nehme ich Fährten auf, spring durch Jahrzehnte. Durch Wind und Wetter sause ich, mit schnellen Schritten mit, in meinem Kopf. Das alles klappt rasch, wer weiß, nach welchen Regeln. Etwas, was hinzunehmen ist, meint die, die ohnehin keine Kraft mehr hätte, es zu hinterfragen. Denn ich bin die, die sich hier und jetzt nicht halten, kaum aufrecht stehen kann. Am liebsten würd ich mich in Luft auflösen. Oder in eine Wendung, die sich erübrigt. Verliere ich Grund unter Füßen, schweb ich mit ausgestreckten Armen, vom Schneeflockenmorgen im Städtchen meiner Jugend in Subtropentage früher Kindheit hinein. Mit einem Lidaufschlag stürz ich wieder zu Boden, lande unversehrt, bummle in europäischen Stadtparks, nehme wahr, wie mich starke Sonnenstrahlen zum Schwindeln bringen. Kaum taxiere ich meinen ungeschützten Schädel, denk ich mir, dass ich dort wie oft verloren bin, verschiebt sich der Fokus, geraten erst Eltern und Töchter, schließlich Freunde, Geliebte, Figuren ins Bild. Das löst sich bald auf, wird unscharf. Zwing ich mich hier und jetzt (in einen gefütterten knöchellangen Mantel gehüllt, die Mütze tief in die Stirn gezogen, die Rollkragen der drei Baumwollpullis bis zur Unterlippen) das Kopfsteinpflaster entlang, erspähe ich zwischen zwei Neorenaissancefassaden endlich eine Nische, wo ich mich halb versteckt krümme und übergebe. (Ich denke, ich kann nur aus mir heraus, mir nichts dabei denken). Spür ich, wie ein vorbeiflanierender Tourist zu mir stiert, schließ ich die Augen, bin längst auf, davon, über alle Berge der Anden. Einen Pfad geh ich entlang, eine mit Palmen wie Plastikskulpturen gesäumte Prachtpromenade am Pazifik. Dort halte ich mir keine pressenden Handflächen gegen den Bauch. Mir dürfte nicht übel sein, das Selbst, die Welt nicht fremd. Zwar ist nichts je in Ordnung, kein Kontinuum in glücklichen Umständen, unter stabilen Bedingungen zu finden. Zwar steht kurz bevor, was vieles wieder auf den Kopf stellt. Doch mir scheint im Moment alles im Lot zu sein. Bester Dinge schau ich auf dunklen Vulkansand und silbrig glitzernde, sanft schaukelnde Wellen, lass mir den Zucker zwischen Silben auf der Zunge zergehen, verflüssigten Klang in Muscheln träufeln: Lot, bester Dinge, schaukelnde Wellen. Schon hab ich mich am Riemen gerissen, aufgerichtet und an meiner Seite. Ich reich dem viereinhalbjährigen, mit kurzer Hose und T-Shirt bekleideten Kind, das ich gewesen bin, meine Hand. Aber es nimmt noch nicht mal einen Finger. Anscheinend kann’s mich gut leiden, was daran liegt, dass es fast alle gut leiden kann. Dem Kind sage ich: Ich schwöre: Noch viel Spielraum! Noch zwischen dreizehn- und vierzehntausend Mal Schlafen! Dann wird’s auf dich ankommen. Gleich flüstre ich: Das Setting werden wir schon irgendwie kennen, den Geruch nach Grapefruit. Oder Stinktierexkret oder Knoblauch oder faulen Eiern? Nicht nur dort, wo die Sprache keinen richtigen Zugang sucht, findest du’s unklar vor. Und es gäbe so viel Wichtigeres zu sagen, aber mir fällt’s nicht ein, im Augenblick nicht auf. Und weißt du, was das – unter anderem – bedeutet? Egal, was du tust, aus deiner Haut kommst du nicht. Und deine Haut hast nicht du dir ausgesucht. Man hat sie dir verpasst, dich in sie gezwängt. Will das Kind, das ich gewesen sein will, seinem winzigen, quirligen Hund hinterher (espera, ruft’s, warte!), will’s von mir fortsprinten, ohne ein Wort, ohne eine Geste, weil’s mich in seinem Raum (diesem Präsens, auf offene Zukunft hin) nicht gibt, weil’s sich frei fühlt, frei und voller Energie, zieh ich’s zurück, murmle leise in mich hinein: Das Freiheitsgefühl ist ein Witz, ein schlechter. Ich werde laut, lauter: Wir schreiben 1980, nicht wahr? Wir befinden uns im Süden dieses Kontinents, oder? Meine Stimme überschlägt sich mit dem Rauschen in seinen, meinen Ohren, und ich halte inne. Frei und voller Energie, spotte ich, nehme mich zurück. Lass dir die Zeit, die du brauchst, sage ich, zeige schweigend Richtung Meer. Ich deute an, lenke ab, hin und her. Lang und breit sei auch der Silberfluss. Río de la Plata, murmle ich. Und ich füge hinzu, dass seine, deine, meine Energie schwinden werde, mit jeder Erkenntnis, die zu nichts führe. Das viereinhalbjährige Kind, das ich nicht mehr bin, hört augenscheinlich nicht, nichts. Ich lass die Hand, die in Wirklichkeit nie in meiner gelegen, auch in Gedanken los, hebe wieder die Stimme, und das Meer bekommt etwas Irreales, Surreales, genauso wie die steil überm Pazifik aufragenden Felsen zu unserer Linken, die auf grüne Hügel gebauten, bunten Holzhäuschen der Siedlung zu unserer Rechten. Sogar der Himmel inszeniert ein Farbenspiel, dem das Kind auf den Leim geht, dem ich hingegen nicht traue, mit gutem Grund. Ich hätte, sage ich, gelernt, mich auch von Schönheit nicht überwältigen zu lassen, auf Abstand zu jedwedem Wohlgefallen und Wohlbehagen zu gehen. Wer wisse denn, was unterm glitzernden Moment verwese. Gutmütig gestehe ich zu, dass mir einzig die Plastikskulpturen und die plaudernden Passanten glaubwürdig wirkten, in ihrer Plumpheit nicht gekünstelt.

Mit jedem Jahr, das du unter Menschen zubringst, und mit jedem, in dem du versuchst, den Umgang mit diesen Menschen möglichst zu meiden, wird deine, meine Energie weniger und weniger. Ein Tag, an dem sie nicht mehr auf dich hören will, ist dir sicher. Sie mag dann anderswo lauern oder weggeweht, rausgeschwemmt, verdampft worden sein. Du kannst dir alles Mögliche und Unmögliche vorstellen, das (Phänomene durchschaubar gestalten wollende, sollende) Bild nach Belieben kreieren. Jedenfalls wird sie nicht kommen, die Energie. Nicht, wenn du sie rufst und auch nicht, wenn du sie herbeiflehst. Sie wird weder Bitten nachgeben noch Befehlen gehorchen. Sie wird dir keine kalte Schulter zeigen, sondern nur, dass sie nie eine gehabt hat, aber dich immer in der Hand, und nicht etwa umgekehrt. Du wirst lernen, dass das Leben unverfügbar ist, du dir selber. Du wirst es lernen und finden, dass du mit dem Gelernten doch etwas anfangen können müsstest, und erleben, dass und wie du dich täuschst. Und du wirst dir denken, dass du dir das eigentlich hättest denken können. Aber du hörst nicht auf, zu hoffen, hörst nicht auf, zu glauben, dass es für irgendwas schon gut ist, und Sätze bilden wie: Mal sehen, ob’s sich nicht doch irgendwann lohnt. Aber eines Tages (viel Spielraum bis dahin, noch zwischen dreizehn- und vierzehntausend Mal Schlafen!) ist’s so weit, dauert’s nicht mehr lang (nur noch ein paar Stunden, und nichts wirst du ahnen!) zu dir hier und jetzt, wo’s dann auf dich angekommen sein wird. Noch sind wir weder bei Neorenaissancefassaden noch fiebrigen Koliken angelangt, aber längst sitzt du auf dem anderen, vertrauter gewordenen Kontinent in einem Turm wegen deines Totentanzprojekts. Bevor der Krampf beginnt, wirst du auf der Fensterbank Platz genommen haben, immerhin auf ein leeres, winterlich verschneites Gässchen, einen dahinter sich schlängelnden Fluss schauen. Du bist gereizt, erinnerst, dass du dich vorbereitet, alles in die Wege geleitet, sämtliche Hürden aus dem Weg geräumt hast (du haderst, mit dir, dem Drumherum: dauernd stellt sich ein Weg in deinen Sinn, steht der Weg neuen Bildern im Weg). Obwohl du dich so auf diesen Danse macabre gefreut und von diesen Wochen viel erwartet hattest, wird deine Unlust als Überdruss stark geworden sein und mehr, anderes werden und du trotzdem nicht bereit, dich solcher Selbstsabotage zu beugen. Du grübelst, wie du’s von Mal zu Mal vorantreibst, wie’s du brauchst und gleichzeitig hasst, jenes von einem zum nächsten, während dir – auch der folgende Nebensatz geht dir auf die Nerven – ein fragloser Bezug zur Welt abhandenkommt, dafür weit und breit kein gewisser Ersatz in Sicht. (Weder bist du zufrieden mit dem „Schlängeln des Flusses“ noch damit, dass da ausgerechnet eine Zäsur sein soll, wenn du – völlig unspektakulär – mit angezogenen Knien auf der Fensterbank kauerst, nichts wirklich tust, nichts wirklich denkst, nichts.) Lippen, Zunge, Gaumen lassen einen kehligen Satz laut werden, und dein Kopf nickt dazu, und alles, was du in diesem Moment bist, fühlt sich so an, als sei’s die Erfahrung deines Lebens schlechthin. Nein, korrigierst du dich, viel eher so: wie wenn man eine Schar bewusst und beiläufig gesammelter Erfahrungen auf einen Scheiterhaufen schleudert und Feuer macht, Rauchschwaden ihre Schleifen zwirbeln, und eine formt sich zur Zeile, wie extra für eine selbst. Diese kannst du sofort decodieren, obwohl du keinerlei Ambitionen verspürst, obwohl du betonst, dass man wieder üben sollte, der Sprache ein Schnippchen zu schlagen, dass man nicht nur wissen, sondern leben müsste, dass Sprache nicht alles, dass Sprache vieles nicht … (Nichts leichter als das, spottest du insgeheim, nach hundert Jahren „Ausbuchstabieren der Welt“ die Finger von ihr zu lassen. (Nichts, was je eingeschrieben, scheint später vollkommen herausles-, herauslösbar, nichts …)) Aber die Zeile, die sich geschäftig vor dir hochwirbelt, unterbricht deine ständigen, einstweilen zu nichts außer einer stets aufs Neue weiter entgrenzenden Unordnung führenden Unterbrechungen, besteht darauf: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Du wirst den Satz, von dem du weißt, dass er ursprünglich nicht der deine ist, was dich nicht weiter stört, weil du und andere sich mehr und mehr vermischen – in deinem äußersten Mangel an Energie ebenso wie im äußersten Überfluss –, vor dich hin rezitieren, als hättest du ihn erfunden oder als wäre er – das zumindest – für dich erfunden worden. Für eine wie dich, denkst du, derer viele. Und dabei glaubst du zu wissen (du glaubst, es wissen nennen zu wollen, nennen zu dürfen), dass sich das Allerallermeiste nicht gelohnt, dass es dich Zeit gekostet hat.

Und während ich all das dem Kind vortrage, das – den winzigen, quirligen Hund nun angeleint – neben mir die Promenade dahintrabt und keinerlei Anstalten macht, verlässlich zu zeigen, ob’s hört, und wenn ja, ob’s zuhört, und wenn ja, ob und was es versteht, gerate ich in meiner Gegenwart mir selbst zum Gegenüber. So wie das Kind werd ich mir zum Du, dem ich vis-à-vis steh oder zumindest in Reich- oder Denkweite voraus- oder hinterherjage. Ich höre, wie ich von mir abkomme, wie’s jetzt schon heißt: du, dir, dich.

 

Isabella Breier wurde 1976 in Gmünd/NÖ geboren und lebt in Wien. Studium der Philosophie und Germanistik, Promotion in Philosophie. Sie arbeitet als Dozentin/Trainerin für Deutsch als Zweit- u. Fremdsprache. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in Anthologien und Zeitschriften; diverse Preise und Stipendien. Zuletzt erschien ihr Buch (s. o.) DesertLotusNest. Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“ (Bibliothek der Provinz 2017), 2014 Anfang von etwas in der Reihe: Neue Lyrik aus Österreich (Verlag Berger 2014).

 

Vielen Dank an Isabella Beier für Ihren Beitrag!

Senta Wagner

Veröffentlicht in Prosa

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