Indie-AutorInnen schreiben – Ulrike Anna Bleier (25)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir hier und jetzt Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist.
Beim Hotlistblog stellen wir ihre bereits fertigen Werke vor. In der Prosa-Reihe bitten wir sie um Unveröffentlichtes, Einblicke in Schreibprozesse oder Auszüge aus Romanprojekten.

(25)

Das gibt es auch: Unser heutiger Gast war schneller als wir. Ulrike Anna Bleiers Auszug aus dem Roman Bushaltestelle hat bereits die fertige Form eines noch druckfrischen Romans angenommen und ist heute erschienen.
2017 stand die Autorin mit ihrem eindrücklichen episodischen Debütroman Schwimmerbecken auf der Hotlist (s. Hotlistlesen). Seitdem sind wir an Bleier drangeblieben. Auch der lichtung verlag aus Viechtach – denn dort sind beide Werke von Ulrike Anna Bleier erschienen.
In Bushaltestelle beschäftigt sich Bleier ausgehend von einem familiären Trauma mit dringlichen Fragen nach der eigenen Bedeutung und ihrem Pendant der Bedeutungslosigkeit, mit dem Gesehenwerden durch andere und dem Verschwinden. Es sei kein Buch über eine Heldin oder einen Helden geworden, sagt sie, „sondern ein Buch über das Du und das Und und das Ich“. Wie konsistent und überlebensfähig dieses Du und Ich, dieses Wir ist, wird sich erweisen.

Bushaltestelle

Festnetz

Vor ein paar Wochen bist du das erste Mal um das Telefon herumgeschlichen, hast darüber nachgedacht, die Nummer zu wählen, die Helen neulich einmal in das Register eingetragen hat, das auf dem Telefonbankl im Wohnzimmer liegt. Hast eines Tages die Nummer gewählt, deine Finger haben nicht gezittert, du hast die Nummer gewählt, wie du jede andere Nummer auch wählst, aber kurz bevor es angefangen hat zu tuten, hast du wieder aufgelegt. Bis du dann ein paar Wochen später nicht schnell genug aufgelegt und das Tuten wie den verlangsamten Herzschlag eines Ungeborenen gehört hast.
Niemand hat abgehoben. Deine Finger zittern noch immer nicht, aber dein Herz klopft stärker als üblich, sogar sehr viel stärker. Es klopft im Brustkorb und es klopft an der Aorta. Nach einer Weile hast du den Hörer wieder aufgelegt und das Herzklopfen war jetzt in den Hörer hineingespeichert. Als es neun vorbei ist, als du deinen Kaffe getrunken hast und ein Brötchen mit Kirschmarmelade geschmiert, aber nicht gegessen, da rufst du noch einmal an, doch wieder geht niemand dran, weil niemand zuhause ist, du lässt es wieder klingeln, dann legst du auf, hinterlässt keine Nachricht, weil es keinen Anrufbeantworter gibt, es gibt schon lange keine Anrufbeantworter mehr, weil alle ein Handy haben. So wie du dich einmal daran gewöhnen musstest, dass es Anrufbeantworter gibt, denen du die eigene Stimme preisgeben musstest, so musst
du dich jetzt daran gewöhnen, dass es keine Anrufbeantworter mehr gibt, sondern nur noch Mailboxen, und du weißt nicht genau, was eine Mailbox ist. Du sprichst nicht auf Mailboxen.

Bald wirst du täglich anrufen, ohne genau zu wissen, was du sagen willst, du hast schließlich ein Recht darauf, mit Familienangehörigen zu sprechen, jeder hat ein Recht darauf, du musst es nur nutzen. Helen hat das gesagt, du kannst sie ruhig einmal
anrufen, du hast ein Recht darauf. Und Helen kennt sich mit solchen Sachen aus, sie hat solche Sachen studiert, das nennt sich Gerontologie. Und sie hat recht, denn bald schon wirst du nicht mehr aufgeregt sein, dein Herz wird nicht mehr bis zum Hals klopfen, es wird klopfen wie sonst auch, nur wird immer noch niemand drangehen, weil niemand da ist. Nur das Telefon ist da und wartet auf deinen Anruf, als wüsste es über dich Bescheid.

Du hast jahrelang nicht mehr drangedacht, aber seit deinem ersten Anruf denkst du jeden Tag daran. Denkst an den Tag, an dem sie, Elke, aus dir herausgestiegen ist, mit einem Bein zuerst, denn so ist sie in die Welt gekommen, nicht wie die anderen Kinder mit dem Kopf zuerst. Welches Bein es war, das linke, das rechte, das kannst du nicht sagen, daran kannst du dich nicht erinnern, da hatten wir anderes zu tun, sagst du, wenn
das Thema aufkommt, denn du wärst beinahe verblutet und das Kind wäre beinahe erstickt. Dann aber habt ihr es doch noch überlebt, jede für sich: du für dich und sie für sich. Das passiert schon mal, dass es so knapp werden kann, hast du gesagt, du hast es nicht direkt zur Elke gesagt, du hast es allen erzählt, aber sie war dabei und ihre dünnen Haare haben sich ein bisschen bewegt. Deine Mutter, hast du erzählt, hat zwei Kinder auf diese Weise verloren, die mit dem Bein zuerst auf die Welt gekommen sind, mit dem linken zuerst, übrigens. Woher weißt du, dass es das linke war, hat der Markus gefragt und du hast gesagt, ich weiß es eben, meine Mutter hat es mir gesagt, so wie ich es jetzt euch erzähle.

Rot

Sie war das erste Kind, und sie hat dir nichts erspart, wirklich gar nichts: Du warst angebunden am Wehenschreiber, auf dem Rücken liegend, die gespreizten Beine, die Schwester, die gesagt hat: Wir sind hier nicht bei Ihnen zuhause, gell?, in einem Tonfall, dass dein Herzschlag zu rasen begonnen hat vor Schmerz und Scham, dass gleich darauf schon die erste Presswehe kam, in die du dich mit aller Kraft und mit aller Wut hineingestemmt hast, was das Kind aber nicht vorwärts gebracht hat, was vielmehr dich zurückgeworfen hat. Die Zeit wollte nicht mehr vergehen, jede Sekunde fühlte sich genauso an wie die Sekunde davor und die Sekunde danach, aus den Sekunden wurden Minuten und aus den Minuten Stunden, die alle gleich waren, in denen du dir selbst beim Weinen und Schreien zugehört hast, und der Stimme der Hebamme, mit diesem Unterton, nie wieder hast du diese Stimme vergessen können, sie hat sich in jener Nacht der Geburt in dein Gehirn geschlichen, ist mit Sack und Pack dort eingezogen und
geblieben, bis heute.

Und als du schon fast bewusstlos warst und gedacht hast, das ist jetzt das Fegefeuer und danach wirds noch schlimmer, es kommt jetzt immer noch mehr Hölle, als du dir vorstellen kannst, da war es endlich da, der Fuß war zuerst da, du weißt nicht, welcher. Mit dem anderen Fuß hatte es sich verhakt in dir, und du hast sehr viel Blut verloren, es hat keine Luft mehr bekommen, das andere Bein hat schon aus dir herausgeschaut,
hat gezuckt, war schon ganz blau.

Und dann haben sie es aus dir herausgezogen, an einem Bein Stück für Stück herausgezogen, und du hast nichts mehr gespürt, ein Rotes, es ist ein Rotes, hat die Schwester gesagt, in einem Tonfall, als habe sie es von Anfang an gewusst, dass eine wie du nichts Besseres zustande bringen wird. Und du bist zurück ins Fegefeuer gefallen und hast nicht mehr mitbekommen, wie sie das Kind reanimiert haben, und dich haben
sie zugenäht mit zwanzig Stichen und ohne Narkose.

Die Jahre danach waren die schlimmsten, kaum konntest du die Geräusche des Kindes ertragen, sein Schmatzen nicht, sein Brabbeln nicht, sein Gurgeln nicht, selbst sein Atmen
nicht, geschweige denn das Weinen und Schreien. Du hast dem Kind deshalb schnell abgewöhnt, Geräusche zu machen, Töne von sich zu geben, zu deiner Überraschung hat es irgendwie sprechen gelernt, wenn auch erst mit drei Jahren, und es wurde immer mehr zu einem Mädel mit dünnen roten Haaren, du hast kaum mit ihr gesprochen, du hast nicht einmal gemerkt, dass sie dir zugehört hat bei deinen Selbstgesprächen, denn du hast ja gar nicht gewusst, dass du Selbstgespräche führst.

Du hast diese Selbstgespräche geleugnet, du konntest dir nicht vorstellen, dass du in ein ständiges Gespräch mit dir selbst verwickelt warst. Aber sie, die Kleine, hat dir zugehört und dir alles nachgesprochen, sie hat dich nachgeahmt, deshalb hast du sie irgendwann nicht mehr gehört, sie hat sich aufgelöst in deinem Gespräch mit dir selbst, sodass dir ihr Sprechen so wenig bewusst war wie dein Selbstgespräch. Erst wenn Nachbarn, Marlene oder die Verwandten vom Sepp dich darauf ansprachen, wie gut die Kleine schon sprechen konnte, ist dir aufgefallen, dass sie sprechen konnte, dann hast du sie durch die Brille der Nachbarn und der Verwandten sehen können und durch die Brille von Marlene, die eine gütige Brille war und die du dir manchmal, an den guten Tagen, ausgeliehen hast. Du hast diese Brille gebraucht, um sie überhaupt ansehen zu können. Der Sepp nannte die Kleine Elke.
(Zwei Kapitel aus Bushaltestelle)

 

Ulrike Anna Bleier wurde 1968 in Regensburg geboren und lebt in Köln. Sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Essays. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ihr Debütroman Schwimmerbecken stand 2017 auf der Hotlist der unabhängigen Verlage.

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„Elkes Leben beginnt mit einem Desaster. Für Theresa, ihre Mutter, ist die Geburt traumatisch, sie kann die Tochter nicht annehmen und ignoriert sie fortan. Als Elkes Bruder geboren wird, konzentriert sich die Fürsorge der Mutter ganz auf ihn. Elke leidet still unter ihrer Bedeutungslosigkeit und verschwindet eines Tages. Den inneren Dialog mit der Mutter setzt sie Zeit ihres Lebens fort.“ (Verlagstext)

  • Ulrike Anna Bleier: Bushaltestelle. Viechtach: lichtung verlag 2018. 224 Seiten. 17,90 Euro

Vielen Dank an Ulrike Anna Bleier für ihren Beitrag!

 

(Senta Wagner; Foto der Autorin ©Stepanka Stepanek)

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