Hotlistlesen (2)

Absurdes Theater, Slapstick und Systemkritik: Der georgische Autor Reso Tscheischwili macht ein Verlagshaus zum Schauplatz für seinen tragikomischen Roman Die Himmelblauen Berge, erschienen 2017 in der Berliner Edition Monhardt. Wer das pseudoklassizistische Gebäude mit seinen hermetisch abgedichteten Fenstern betritt, verlässt es nicht so schnell wieder.
Der Schriftsteller Sosso liefert dort sein Manuskript ab, an dem er lange gearbeitet hat. Das Werk scheint schon diverse Prüfungen einer Behörde hinter sich zu haben, es trägt die beiden verordneten Titel „Die Himmelblauen Berge“ „Tian Shan“, und der Autor hat sich an alle ihm bekannten Vorgaben gehalten. Er ist im Verlag schon gut bekannt, wird überall gegrüßt, viele versprechen ihm, das Manuskript gleich zu lesen.
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Autor bei seinen Beschreibungen des Verlages ein sowjetisches System im Kopf hatte; ebenso tauchen Assoziationen zu anderen Werken auf, in denen Organisationen mit undurchschaubar-absurder Administration geschildert werden, allen voran Kafkas Schloss und Der Proceß. Überall, wo der Schriftsteller Sosso im Gebäude hinkommt, befinden sich Gruppen von Menschen, die zwar sehr geschäftig scheinen, aber niemand scheint tatsächlich zu arbeiten. Am konkretesten wirkt noch die körperliche Arbeit, hier werden ab und zu Leitern geschleppt und Säcke weggeräumt. Hie und da werden Anrufe beantwortet (mit meist unverbindlichen Worten und Lauten), und es gibt Sitzungen und Treffen, bei denen Protokolle geschrieben werden müssen und bei denen Anfang, Ende und Inhalt meist nicht sehr deutlich erkennbar sind. Insgesamt könnte der Eindruck entstehen, die Mitarbeiter würden „Arbeit“ beziehungsweise „Verlag“ spielen, oder auch, dass ihr Einsatz und ihre Energie allein der Erhaltung des Systems dienten, nicht den Inhalten ihrer Arbeit oder gar der Fertigstellung von Projekten. Hier tritt natürlich Kritik am sowjetischen System zutage, die sich aber genauso auf bestimmte Firmenstrukturen in westlichen Ländern übertragen lässt.
Hauptsächlich wird unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diskutiert und geplänkelt; es scheint, als ob sich alle gut kennen (für die Lesenden treten unter den vielen Namen nur einige konkret hervor) und sich in ihr Dasein gefügt haben. Tscheischwili, der in Georgien unter anderem als Drehbuchautor für ein Filmstudio und als Theaterdirekter tätig war, beherrscht das Schreiben von absurd-komischen Dialogen meisterhaft:

„Ist Ihnen nicht wohl, Herr Wasso?“ fragt Otar ihn leise.
„Nicht so ganz, wie’s sein sollte, ich habe Zahnschmerzen.“
„Haben Sie eine Zahnschmerztablette genommen?“
„Nein, eine Nierentablette. Eine andere hatte ich nicht, was soll ich tun!“

Sehr komisch sind auch die Bestrebungen des eifrigen Sosso, der anscheinend sicherstellen will, dass sein Manuskript möglichst schnell durch möglichst viele Hände geht:

„Irodion wird es dafür noch heute fertiglesen und gleich morgen Zwerawa weitergeben, wenn er kommt, und wenn er nicht kommt, Kote, dann nimm du es ihm ab, gib die Hälfte Tengis, die andere Hälfte Kako und lest es nach dem Tauschprinzip, wenn es euch keine Umstände macht!“

Oder vielmehr wäre es komisch, wenn einem nicht bei der Vorstellung eines derart chaotischen Umgangs mit einem Manuskript (1980, Jahre vor der elektronischen Datensicherung) buchstäblich die Haare zu Berge stehen würden:

„(…) Wasso Tschorgolaschwili wird sein Exemplar Bela weitergeben, und du kennst ja Belas Angewohnheit, mal lässt sie es da liegen, mal legt sie es dorthin, nimm ihr doch die gelesenen Seiten immer gleich ab und lass sie bei euch wie am Fließband herumgehen, dann sammle sie zusammen und heb sie mir auf, ich werde zwei Tage nicht da sein, lass mich nicht im Stich (…)?“

Überflüssig zu sagen, dass das Manuskript auf diese Weise verloren geht und nur Teile aus verschiedenen Fassungen wieder auftauchen – immerhin ein Grund für Sosso, sich mit Bela, der jungen Verlagsmitarbeiterin mit glattem Gesicht und festen Brüsten, in der Dachkammer einzuschließen und das Manuskript wieder zusammenzusetzen. Zu einer Veröffentlichung kommt es in der Geschichte natürlich nicht; die Alltagshandlung im Verlag dreht sich weiter im Kreis, auch wenn das Gebäude und das System bedrohliche Risse zeigen. Es gibt im Text keine Kapitelunterteilungen und keine Zäsuren, der Arbeitstag scheint ewig anzudauern, und niemand geht am Abend einfach nach Hause. Die, die es schaffen, das Gebäude zu verlassen, tun es auf gänzlich ungewöhnliche Weise, und nicht freiwillig.
Der bereits genannte Wasso Tschorgolaschwili ist der eigentliche, zum System gehörige, tragische Held der Geschichte. Er scheint älter zu sein als die anderen und eine etwas höhere Position innezuhaben, jedoch längst nicht hoch genug, dass er irgendetwas selbst bestimmen könnte. Er hat mehr Einblicke, sodass er erkennt, dass ihr Tun in Wahrheit keinen Sinn ergibt:

„Was zu tun ist, wird auch ohne uns getan werden. Was zu entscheiden ist, wird auch ohne uns entschieden werden. Müssen wir denn unbedingt die Ergebnisse abwarten. (…) Die ‚Himmelblauen Berge‘ sind angenommen. Heute oder morgen wird einer von uns ein Gutachten schreiben, aber die Sache ist die, dass ich dieses Gutachten nicht unterschreiben können werde.“

Niemand kann das Gutachten unterschreiben und die Unterschrift bestätigen, trotzdem müssen die vorgeschriebenen Amtswege eingehalten werden. Und überdies ist das Manuskript wieder einmal verloren gegangen.
Was bleibt am Ende übrig, der Autor, sein Werk oder keines von beiden? Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Worum es in Sossos Buch eigentlich geht, wird nie beschrieben; nur dass die Farbe Himmelblau symbolisch einerseits für die Unerreichbarkeit, andererseits für die Hoffnung steht. Blau ist die einzige Farbe, die in der Geschichte hervorgehoben wird; durch Sossos Buchtitel, in Säcken mit Kupfervitriol, die geliefert werden (für die Druckerei?), als Farbe im Gemälde in Wassos Büro und schließlich am Ende in den tatsächlichen himmelblauen Bergen, die in der Sonne aufblitzen.

Miriam Mairgünther

 

  • Reso Tscheischwili: Die Himmelblauen Berge. Aus dem Georgischen übersetzt von Julia Dengg und Ekaterine Teti.
    Mit einem Nachwort von Ilia Gasviani. Berlin: Edition Monhardt 2017. 160 Seiten. 22 Euro (D).

Die Übersetzung von „Anlasserritzel“ und „Landschaftsbaudelegation“

Als Preis für den Hotlist-Titel Die Himmelblauen Berge hat die Edition Monhardt einen Messestand auf der Leipziger Buchmesse erhalten. Und noch einen weiteren Preis gab es in Frankfurt: Die SABA-Literaturpreise, die bedeutendsten literarischen Auszeichnungen in Georgien, wurden 2018 auf der Buchmesse verliehen. Eine Kategorie davon ist die „Beste Ausländische Übersetzung Georgischer Literatur“. Diese Ehrung wurde an Julia Dengg und Ekaterine Teti für ihre Übersetzung der Himmelblauen Berge vergeben. Dank ihrer Arbeit kann das humorvolle, absurde und melancholische Buch von Reso Tscheischwili nun auch auf Deutsch entdeckt werden. Die Lektüre des Romans wirkt noch lange nach: „Er erzählt nicht (nur) eine Geschichte, sondern lenkt den Blick zugleich auf das Medium der Sprache selbst: so, wie das Lyrik tut.“ (Stefan Monhardt) Dieser Aspekt ist auch im Werk der Übersetzerinnen sicht- und lesbar.

 

Interview mit Stefan Monhardt

Einen Blick auf die nächsten Berge: Der Verleger Stefan Monhardt hat sich zwischen den Vorbereitungen für die Buchmesse und Kofferpacken noch Zeit genommen, bei einem Gin Tonic Miriam Mairgünthers Fragen zu Reso Tscheischwilis Roman und zu seinem Programm zu beantworten.

Warum haben Sie sich entschieden, Die Himmelblauen Berge von Reso Tscheischwili für die Hotlist einzureichen?

In diesem Roman bündelt sich alles, was mir persönlich als Verleger – und Leser – bei Literatur wichtig ist: Er erzählt nicht (nur) eine Geschichte, sondern es lenkt den Blick zugleich auf das Medium der Sprache selbst: so, wie das Lyrik tut. Er ist letztlich ein Buch über das Funktionieren von Literatur und Sprache selbst; das hat mich vielleicht am meisten an diesem Text gereizt. Und man merkt es zunächst gar nicht – es geschieht einfach so, nebenher, spielerisch und wie selbstverständlich.
Dabei verhandelt das Buch aber zugleich ganz wichtige Themen des 20. Jahrhunderts: den totalitären Staat und das, was er mit den Menschen, ihrer Seele, ihrem Handeln, ihrer Kommunikation macht. Die Macht bzw. Ohnmacht der Kunst in einem solchen System. Die Welt der individuellen Hoffnungen und Wünsche, die sich gegen den totalen Zugriff von außen behaupten muss.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich dieses Buch realisieren konnte. Die beiden Übersetzerinnen, Julia Dengg und Ekaterine Teti, haben einen wunderbaren deutschen Text gebaut. Svetla Georgieva, die Designerin, hat den Band großartig gestaltet und mit dem genau passenden Cover versehen. Was, wenn nicht das, sollte ich in die Waagschale werfen?!

Der Titel ist in Georgien vor allem durch die Verfilmung sehr bekannt. Sind Sie durch den Film auf das Buch gestoßen?

Ich selbst bin jemand, der vor allem vom Wort und von der Sprache herkommt, die Bilder und der Film spielen für mich selbst keine so große Rolle, für die verlegerische Entscheidung war das in keiner Weise entscheidend. Ich wusste von der Verfilmung, habe sie mir aber erst angesehen, als das Buch bereits im Druck war – übrigens mit großem Vergnügen. Und doch ist mir das Buch näher und lieber…

Noch zwei Fragen zur Übersetzung: Im Nachwort des Romans ist die Rede vom speziellen Humor der Gegend, aus der der Autor stammt. Ist dieser auch in Die Himmelblauen Berge enthalten? Die Dialoge unter den Figuren wirken sehr realistisch; gleichzeitig sehr offen, weil sie keine Ausdrücke enthalten, die man im Deutschen mit einer bestimmten Region oder einem bestimmten Dialekt assoziieren würde.

Mit dem Humor einer bestimmten Gegend meint man ja nicht unbedingt Dialektausdrücke, sondern eine bestimmte Weltsicht, einen spezifischen Witz. Den trockenen Berliner Humor. Den Lakonismus des Noddeutschen („Wie geht’s?“ „Muss!“). Das Einerseits-Andererseits der Schwaben. Den Wiener Humor, über den ich mir als Außenstehender nur bewundernde Mutmaßung erlaube. All das zweifellos aus einem bestimmten Idiom geboren, aber nicht darauf reduzierbar und nicht ausschließlich daran gebunden, sondern übersetzbar – wie alles Sprachliche.

Gibt es sprachliche und stilistische Eigenheiten, die typisch für die georgische Sprache sind und die in der Übersetzung eine Herausforderung waren?

Es wäre vermessen, wenn ich mich über die Eigenheiten des Georgischen äußern sollte – diese sind mir ausschließlich durch den Spiegel der Übersetzung und durch intensive Gespräche mit den Übersetzerinnen bekannt.
Was ich allerdings sagen kann, ist dies: Im konkreten Fall bestand eine große Schwierigkeit allein darin, eine Fülle von technischen Ausdrücken (von „Anlasserritzel“ über „Motoballförderation“ bis zu „Landschaftsbaudelegation“) zu identifizieren und adäquat zu übersetzen, dazu kommt eine große Zahl von Termini zur politischen Struktur des Sowjetsystems und natürlich die übliche Menge an „Realien“ aus einer Kultur, Region und Periode. – Dies alles sind aber keine spezifischen Schwierigkeiten des Georgischen.

Eine wirkliche Eigenart der Sprache besteht aber beispielsweise in ihrem Reichtum an differenziertesten Ausdrücken für Sinneseindrücke, ganz besonders für Farben – was sich übrigens bereits im Titel des Buches zeigt: Es sind nicht einfach „blaue“ Berge, sondern „himmelblaue“ Berge! Und schon auf den ersten beiden Seiten des Buches begegnen einem die Adjektive „lasurblau“, „schlackegrau“, „pseudoklassisch“, „schmächtig“, „blass“, „glattgesichtig“. Und oft genügt dem Georgischen ein Adjektiv nicht, es setzt ein zweites und drittes und manchmal sogar viertes hinzu. Es galt, diese Eigenart in der deutschen Fassung nicht einfach wegzukürzen und an unsere Gewohnheiten anzupassen, sondern sie als Eigenart zu erhalten und sichtbar zu machen.

Wie sehen Ihre Pläne für den Verlag aus? Soll es bei Monhardt in Zukunft mehr Bücher aus dieser Region geben?

Von Anfang an war mein Plan, den Blick auf deutschsprachige Gegenwartsliteratur und auf Literatur aus Südosteuropa zu lenken. Um freilich auch das ganz deutlich zu sagen: Die Rede von „Plan“ und „Programm“ ist hier ganz wörtlich zu nehmen – meinen Verlag gibt es erst seit 2015, er ist im wahrsten Sinn des Wortes der klassische „Wohnzimmerverlag“, und mehr als zwei, drei Bücher im Jahr werde ich auf absehbare Zeit kaum machen können. Pläne gibt es also tatsächlich übergenug.
Der Zufall des Gastlandauftritts Georgiens hat es mit sich gebracht, dass ich nach zwei „deutschen“ Titeln nun tatsächlich gleich drei georgische Bücher herausbringe – neben den Himmelblauen Bergen sind das der Erzählband Ein Becher Blut von Surab Leschawa und der Gedichtband Enzephalogramm der Lyrikerin Lia Sturua. Ja, und ein viertes Buch aus Georgien würde ich tatsächlich gerne schon möglichst bald realisieren – doch mehr dazu vielleicht bei anderer Gelegenheit.
Mit der Linie Berlin–Tbilissi hätte ich dann eigentlich schon die Eckpunkte meiner Interessen abgesteckt. Aber ich habe gelernt: Das nächste Buch ist immer das, mit dem du am wenigsten gerechnet hättest. Ich freue mich darauf!

Danke an den Verleger Stefan Monhardt und viel Erfolg dem Verlag!

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