Hotlistlesen (3)

Mit Du bist in einer Luft mit mir steht der hinreißende Debütroman einer georgischen Schriftstellerin auf der Hotlist 2018. Ruska Jorjoliani wurde 1985 im Hohen Kaukasus geboren, flüchtete aufgrund ethnischer Säuberungen in den Neunzigerjahren und lebt seit 2007 in Palermo. Ihren Roman hat sie auf Italienisch verfasst, auch wenn eine andere Sprache als die Muttersprache Abstand bringt, wurzelt sein Thema doch tief in der russischen Seele. Erschienen ist das Buch in der Edition Blau des Rotpunktverlags, der seit 2016 bestehenden Belletristik-Sparte des Schweizer Verlags. Blau, weil Blau die Farbe der „Sehnsucht nach dem Ungesagten, nach dem, was fehlt“, ist.

Dass Jorjolianis Roman grundsätzlich anders tickt, ironisch und poetisch zugleich, zeigt das „Kleine einführende Glossar“. Was normalerweise als Anhang einem Werk beigefügt wird, steht hier zu Beginn und behauptet Begriffe als einführungs- und erklärungsbedürftig, die es auf den ersten Blick gar nicht sind: Langeweile, Klischee, Bild, große Gefühle oder Briefe. Es ist abgefasst von einem „bejahrten Bibliothekar und Gehilfen eines großen russischen Dichters“. Auch Essbares darf nicht fehlen und „Er“, mit der Definition „Nennen wir ihn Kirill“. Der Bibliothekar, wird sich zeigen, heißt Alexander, Sascha, und ist nicht nur „Buchstabenhüter“, sondern auch Hüter einer hinreißenden, verschlungenen Geschichte um Großväter, Väter und ihre Söhne, als deren Beteiligter er in Erscheinung tritt. Schließlich ist ihm auch ziemlich langweilig nach über vierzig Jahren Arbeit in der Solschenizyn-Bibliothek. Da ist alles, was durch die „Dienstbotentür seines Gedächtnisses“ eintritt, höchst willkommen. Die Lesenden werden zwischendurch aufgefordert, sich „mit Geduld zu wappnen“.

Ein Buch, das mit einer Gedichtzeile von Boris Pasternak betitelt ist, muss von Poesie durchdrungen sein, wenn nicht von ihr erzählen. Tatsächlich ist es eine Fundgrube literarischer Verweise auf russische Dichtergrößen von der Romantik bis zu Turgenjew und Tschechow. Sie sind die Helden der Protagnisten, die selbst „Helden keiner Zeit sind, der unseren nicht und schon gar nicht ihrer eigenen“. So erklärt sich auch Jorjolianis hochpoetische, melancholische und verspielte Sprache, die eine verblichene Schönheit abstrahlt. Zugleich tippen die vierzig kurzweiligen Kapitel ein Jahrhundert wechselvoller russischer Geschichte an vom Zarenreich über die Revolution und Stalin bis zur postsowjetischen Zeit.

Dimitri, Freund der Metapher und Lehrer für russische Literatur im Flecken Miroslaw, verbindet eine Kindheitsfreundschaft mit dem Ingenieur Viktor, Freund des Notizbuchs und Brückenbauer bzw. -Zerstörer, je nach politischer Großwetterlage. 1934 steht die Geburt ihrer Söhne bevor. Der Wodka fließt, das Schachspiel läuft, aber was die Revolution und Zeitdiagnosen betrifft, sind die beiden sich nicht grün. Einer steht hinter dem System, der andere ist wachsam. Als Dimitri das Lenin-Porträt in seinem Klassenzimmer zum Fenster rausschmeißt, wird Viktor bei einem absurd wirkenden Verhör seinen Freund verraten mit den Worten, dass Dimitri nie an irgendeine Revolution geglaubt habe. Daraufhin wird Dimitri zur Zwangsarbeit in Sibirien verdonnert.
Sein ganzes Leben wird Viktor unter dem Verlust leiden und an einem „freundlichen Sozialismus“ arbeiten. Wiederauferstehen wird der Geist ihrer Freundschaft in den Söhnen Kirill und Sascha und sich zu einer schillernden Bruder- und Dichterschaft auswachsen. Schon vor dessen Geburt hatte sich Dimitri für seinen Sohn Kirill gewünscht, er möge ein Dichter werden. Allein die Poesie ermögliche es, in einem System der Unfreiheit und Unterdrückung zu überleben. Vielleicht wird sein Wunsch in Erfüllung gehen.
Es sind vor allem Saschas sprunghafte Erinnerungen sowie Briefe, Kommentare, Listen, Träume, die den Roman als Mosaik anlegen. Klug und mühelos fügen sich seine losen Teile zur universellen Geschichte von Freundschaft und ihren Fährnissen, vom Glück und Elend des Menschen und seinen großen Wünschen.

Senta Wagner

  • Ruska Jorjoliani: Du bist in einer Luft mit mir. Aus dem Italienischen von Barbara Sauser. Zürich: Edition Blau im Rotpunktverlag 2018. 216 Seiten. 22 Euro

 

 

 

Interview mit Verlegerin Daniela Koch

Warum haben Sie sich bei der Einreichung zur Hotlist für Du bist in einer Luft mit mir von Ruska Jorjoliani entschieden?

Mit Du bist in einer Luft mit mir lässt sich ein überraschendes Buch entdecken. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine doppelte Familiensaga auf 210 Seiten modern, gewagt, mit Mut zur Lücke erzählt. Auch die Biografie der Autorin mit den Stationen Nordkaukasus, Tiflis, Palermo sowie ihr Schreiben in der Fremdsprache verweisen auf das aktuelle Jahrhundert. Ein Buch, für das es verlegerischen Mut braucht.

Was ist das Besondere an Ihrem Verlagsprogramm, an Ihrer Philosophie?

Die Edition Blau – Belletristik im Rotpunktverlag – öffnet Räume in blaue Weiten und blaue Höhen, erschließt unbekannte Blickwinkel auf die menschliche Existenz. Die Reihe steht für Neuentdeckungen deutschsprachiger sowie italienischer und französischer Literatur, aber auch Wiederentdeckungen durch Neuübersetzung.

Was bedeutet für Sie unabhängiges Verlegen? Darf es weitergehen wie bisher?

Wie fast alle Verlegerkollegen stehen wir unter starkem Druck. Zahlen, wohin man schaut. Dabei ist man doch einmal angetreten, etwas mit Buchstaben zu machen. Was unsere Lage verbessern würde: mehr und besondere Aufmerksamkeit der Medien für Bücher aus unabhängigen Verlagen; Stärkung der Indie-Philosophie durch intensivere Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Buchhandel.

Herzlichen Dank an Daniela Koch!

 

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