Hotlistlesen (9)

Was wären die Dinge ohne sie. Dem Forscherteam Tarek Leitner und Peter Coeln ist es zu verdanken, dass ein „Massaker“ an ihnen ausblieb. Dafür haben die beiden neben Beherztheit und voyeuristischer Neugierde ein ganzes Rüstzeug an gewieften Fragestellungen mitgebracht – und eben eine Portion Forschergeist. Nicht zwingend ist das zu Erforschende immer auf den ersten Blick erkennbar, mitunter will es der Zufall, dass man ihm begegnet. So geschehen „beim ersten Betreten des ehemaligen Schuhhauses Hofler in Gars, in Niederösterreich, beim Öffnen der Tür des Hauses Reinharterstraße 100“. Dort treffen der Fotograf Peter Coeln und der Autor Tarek Leitner auf ihre Protagonistinnen: den Geist der ehemaligen Bewohnerinnen Hilde und Gretl, ihre Dinge, ihr Leben in diesen drin, schlicht auf das Leben, vielmehr auf das, was daran erinnert. Machen wir durch sie, die Dinge, unser Leben überhaupt erst begreifbar?
Die Cousinen Hilde und Gretl haben in dem verblichenen schrulligen Haus einige Jahrzehnte in trauter Zweisamkeit verbracht, inklusive gemeinsam geteiltem Doppelbett. „Unmittelbar nach dem letzten Weihnachtsfest fiel das Haus in einen Dornröschenschlaf.“ Noch waren dort manche Geschenke nicht aufgepackt, lagen die Klaviernoten bereit zum weihnachtlichen Spiel. Jetzt hat Peter Coeln das Haus gekauft. Protagonistinnen deshalb, weil alles, was Coeln und Leitner antrafen, in einem Akt der Einverleibung Eingang in den vorliegenden Text-Bild-Band Hilde & Gretl, erschienen im Wiener Brandstätter Verlag, finden sollte, an dessen Genese wir sozusagen teilhaben. Letztendlich geht es darin um den Erhalt des Hauses und der Geschichte seiner Innenwelt. Die Inspiration schien die Forscher auf der Schwelle der Eingangstür überkommen zu haben. Diese Innenwelt, Dokument der Wesen von Hilde und Gretl, nun ist eine Offenbarung, verborgen unter Staub und Muff wird es zur intimen Grabungsstätte. Mit einem spitzen Gegenstand, scheint es, sticht das Duo lustvoll in eine überbordende „Zeitkapsel“ hinein: „In jedem Kasten, in jeder Lade, in jeder Vase, jeder Tasche, auf jedem Regal, hinter jedem Bild, im Klavier und in den Koffern, unter dem Teppich und zwischen den Fensterflügeln, an und hinter den Vorhangen und in der Küchenbank, in der Zigarettendose und im Brillenfutteral, im Lederetui, im Sparschweinchen und in jeder kleinen Schatulle ist die Zeit konserviert, und die Welt zweier Cousinen, wie sie im 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist.“ Mit Hilde & Gretl ist ihre Geschichte in der (Nach-)Welt, sonst wäre sie es nicht. Es ist wie in einem Museum, wo die ausgestellten Werke mit „Wert und Bedeutung“ aufgeladen werden. In unserem Fall sind Leitner und Coeln die launigen Kuratoren.

Bei Hilde und Gretl sieht es jedenfalls aus wie einem überfüllten Ramschkaufhaus, es herrscht „Chaos“, festgetreten der „Alltagsschutt der Jahrzehnte“. Coeln weiß auf seinen Farbbildern die Auswüchse dezent und detailsinnig einzufangen. Ein Objekt der Begierde waren Engerl in allen Gestaltungsformen. Da kommt freilich die Frage auf nach dem Unterschied vom Sammeln à la Benjamin und dem Ansammeln. Vom derzeit angesagten Ausmisten zur Seelenreinigung findet sich im Haus keine Spur. Im Gegenteil, es gibt nur Spuren. Neben einem gewissen Drang zum Horten ist ein „ausgeklügeltes Ordnungssystem“ zu erkennen, das die Forscher in ihr eigenes überführen. „Es ist kein Zufall, wie diese tausenden Dinge liegen, stehen, eingeschlichtet und gestapelt sind.“ Eine bemerkenswerte Entdeckung ist etwa das Prinzip der Strumpfhosenbindung, mit der sich Aktenstapel zusammenfassen lassen.
Dann geht es ganz konkret ums sogenannte Stiadln. Für das, was Coeln und Leitner in dem Haus fabrizieren, gibt es tatsächlich, laut ihrer Aussage, nur diesen Begriff (= in etwa herumkruschteln). Mit erheblichem Vergnügen liest man von der Ausrüstung der beiden, dem „Sichtungshut“ und dem „Räumrock“, umstandslos aus dem Fundus von Hilde und Gretl entnommen. Inzwischen haben sie das Aussehen echter Profiler angenommen. Die Damen waren „penible Chronisten“, Buchhalterinnen ihres Lebens, im Stil dokumentarisch, in allem, vor allem dem Dazwischen versuchen Leitner und Coeln aber auch etwas über sie als Menschen herauszufinden, ihre Gefühle, Werte und Haltung. Aufschlussreich ist die Entdeckung eines Tresors, dessen Inhalt noch eine „weitere Welt“, eine schmerzhafte, eröffnet.

Autor und Fotograf geben sich in ihrer je eigenen kunstvollen Herangehensweise der Fülle und wie der Überforderung durch ihre Wühlarbeit hin, sie ziehen Schlussfolgerungen und stellen Zusammenhänge her: „Zwei Leben, deren Alltag, und nicht deren Außergewöhnlichkeiten sich vor uns ausbreiten: in abertausenden Dingen, in Briefen, Notizzetteln, Fotografien und Dokumenten. Die Autoren kommen zum Fazit: Der Alltag ist es, der uns fertigmacht. Insofern lohnt es, auf diesen fremden Alltag, der in mancher Hinsicht auch der unsrige sein könnte, genauer zu blicken.“
Das Einnehmende des schmucken, wohlproportionierten Bandes ist sein hintersinnig-humorvoller Charakter. Eine lakonische Meditation über Zeit und Raum und die Nichtsichtbarkeit von Wert für andere.

Senta Wagner

 

  • Tarek Leitner/Peter Coeln: Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge. Wien: Brandstätter Verlag 2018. 160 Seiten. 25 Euro.

 

 

Interview mit dem Brandstätter Verlag

Warum haben Sie sich bei der Einreichung für Hilde & Gretl von Tarek Leitner und Peter Coeln entschieden?

Hilde & Gretl ist ein außergewöhnliches Buch in jederlei Hinsicht – das Thema, das Konzept, die Zugangsweise, und auch die Gestaltung sind nicht das, was man täglich sieht. Uns ist hier ein tolles Stück Buchkunst gelungen, das wollten wir zeigen.

Was ist das Besondere an Ihrem Verlagsprogramm, an Ihrer Philosophie?

Unsere drei Grundsätze sind: Tradition, Handwerk und Pioniergeist. Der Brandstätter Verlag versteht sich als Büchermanufaktur, wir widmen jedem Buch, das bei uns erscheint, besondere Aufmerksamkeit und stecken viel Herzblut in jedes Projekt. Das spürt man. Wir dürfen auf eine insgesamt sehr erfolgreiche 35-jährige Geschichte zurückblicken, in der wir viel Know-How sammeln konnten – mit dieser Erfahrung als Fundament, und gemeinsam mit unserem tollen Autorennetzwerk, entwickeln wir uns ständig weiter. Wir orientieren uns an der Zukunft, mit einem gleichzeitig starken Bewusstsein unserer Geschichte, und mit einem Fokus auf handwerkliche Qualität. Das hebt uns von anderen ab.

Was bedeutet für Sie unabhängiges Verlegen? Darf es weitergehen wie bisher?

Unabhängiges Verlegen bedeutet für mich, mit Leidenschaft an die Sache zu gehen und  sich die Vorgehensweise nicht ausschließlich vom Markt diktieren zu lassen. Als unabhängiger Betrieb kann ich flexibel sein in der Art und Weise, wie ich wirtschafte – das gibt konzeptionell und inhaltlich Freiheiten, die sich in außergewöhnlichen Büchern und  kreativen, überraschenden Lösungen niederschlagen. Und das finde ich wichtig und wertvoll. Wenn Sie also mit »weitergehen wie bisher« meinen, dass man weiterhin innovativ bleibt und inspirierende Impulse setzt, dann auf jeden Fall.

Danke an Barbara Blaha und viel Erfolg dem Verlag!

 

Senta Wagner

Hinterlasse einen Kommentar