Textreihe (26): Sophie Reyer

Das neue Jahr hüllt uns in den ersten Schnee. Niemand muss mehr lange darauf warten. Er ist da. Und mit ihm freuen wir uns über Sophie Reyer und ihren bedrückend-eindrücklichen Text Erster Schnee (hier als PDF), der aus Wasser Schnee macht und es nochmals weihnachten lässt. Sophie Reyer ist unser erster Gast 2019 in der Reihe „Indie-AutorInnen schreiben“.
Die in Wien lebende Autorin ist ein bisschen überall unterwegs. Sie arbeitet so vielseitig wie produktiv, kritisch wie spielerisch und feinsinnig auf diversen Feldern, sei es der Dichtkunst, dem Theater, arbeitet sich aber ebenso ab am Konzept der Biomacht und ihrer Wirksamkeit. Schlüssig und widerständisch ziehen sich ihre Gedanken durch ihr Werk. Allein im Frühjahr dieses Jahres erscheinen vier Titel, darunter Gedichte und ein Roman, in vier verschiedenen unabhängigen Verlagen (s. u.).

Auf ihr poetisches Selbstverständnis hin befragt, sagt Sophie Reyer: „P-A-R-A-LL-E-LLLL. Als Kind konnte ich stundenlang das Wort „parallel“ wiederholen, ich ließ es mir auf der Zunge zergehen, fand es witzig, ohne zu wissen, was es meinte, bekam komische Bilder im Kopf. Sprache hat mich von Anfang an unglaublich fasziniert. Diese Faszination lag vor allem in ihrer Phonetik und nicht in ihrer Semantik: Par. All. Lalla. Rap. Parallel. Prall. Alle. Palle. Rar. Parle. Para. Laller. (…). Je älter ich wurde, desto größer wurde das Bedürfnis, mit diesen Klängen zu erzählen, und ich begann, mich mit klassischen Märchenstrukturen auseinanderzusetzen – und Prosa zu schreiben. Der Weg blieb derselbe: Die Suche nach einer Sprache jenseits herkömmlicher Strukturen.“/sw

Erster Schnee

Manchmal, wenn es im Winter Flocken regnet, sind die Tage durchsichtig, weiß Lea. Je kürzer sie dauern, desto klarer leuchten sie. Sie haben eine komische Milde und hinterm Haus liegt dann immer ein Geheimnis. Es ist, als würden die Tage sich selbst durchschauen. Sie sind transparent, sind wie aus Pauspapier, Lea kann die Bilder im Kopf kopieren. Hin und wieder legt sie diese vorm Schlafengehen in ihrer Erinnerung übereinander, sodass ein Kaleidoskop entsteht. Es gibt auch dunkle Tage, und die Dunkelheit macht sie klar. Diese Tage gefallen ihr am besten. Sie sind grau, sie dehnen sich. Man hat immer Hunger und möchte an der Heizung hocken. Diese Tage erwarten die Nacht, und Lea wartet mit ihnen. Die Schwärze der Tage, die nur hin und wieder von ein wenig Licht zerstochen wird oder von dem Geschmack nach Weißbrot im Mund aufgeplustert, kommt Lea ehrlicher vor. Dann ist es nicht verwunderlich, dass der Verrückte im Dorf, der mit nur einer Hand aus dem Krieg zurückgekommen ist damals, von den Kindern mit Steinen beworfen wird. Dann macht die Migräne der Großmutter keine Angst. Leas Großmutter hat oft Migräne, weiß Lea. Sie sieht dann helle Flecken. Vielleicht hilft es ihr gegen die Dunkelheit. Aber sie mag die verhangenen Tage. Mag, wie sie die Nacht empfangen. Sie trinkt dann den ganzen Tag Früchtetee und hockt vor dem Fenster.

Hasan fühlt sich, als wäre er zu Wind geworden. Dieses Dorf besteht aus Schilf und Wind, der darin wühlt, denkt er. Erinnert sich an die Reise im Autobus: Münder drängten sich gefährlich nahe an ihn heran, Körper schoben ihn durch die Gegend. Er hielt die Hand des kleineren Bruders. Die Hand schwitzte in ihn hinein. Der kleine Bruder klebte fest an ihm. Gesichter überall, Stille, schweigen, nur das regelmäßige Rauschen, ein Auto in Bewegung. Irgendwann spürte Hasan seine Füße nicht mehr. Aber das war egal. Er konnte nicht fallen. Nicht nach vorn, nicht nach hinten. Die Körper waren zu dicht aneinander gepfercht. Später: aussteigen. Das Licht stach in den Augen. Es dauerte, bis er sich umsehen konnte. Nichts war neu hier. Nicht auf den ersten Blick. Die Frauen trugen Tücher um den Kopf, sie schirmten ihr Haar ab, die Männer waren braungebrannt und hatten Falten um die Augen. Hasan sah sich um. Überall Menschen, zusammengerollt in Decken oder auf der Straße stehend, an Mistkübeln lehnend, sie schauten, lachten oder schwiegen und waren hauptsächlich viele. Als Hasan weiterging, in ein großes, kasernenartiges Gebäude hinein, stob ihm eine riesige Menschenmasse entgegen. Hinein und hinaus gingen sie, drängten. Das kannte er nun schon, vom Bus. Auf pastellfarbenen Tüchern hatte jemand Spielzeug ausgebreitet, das verschenkt wurde. Isil quietschte entzückt und die Mutter, die sie im Arm hielt, bückte sich kurz, damit Isil nach den fluffig blauen Bären greifen konnte. Hasan senkte den Blick. Es war zu viel, dachte er. Wie Wasser, das über einen schwappt, sodass man nicht mehr atmen kann. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass die Mutter Blut auf dem Kleid hatte. Hasan dachte zuerst, sie wäre verletzt. Dann erinnerte er sich: Die Mutter hatte ihre Periode. Es gab wenig Wasser. Es gab keine Binden. Hasan ging weiter. Im Vorüberstreifen belauschte er ein Gespräch zwischen zwei Männern, die am Eingang der Kaserne standen und rauchten.
„Sie haben einen Bus abgestellt. 400 Leute in einem Bus.“
„Du machst Witze.“
„Nein.“
„Das geht sich nicht aus. Du weißt, wie groß ein Bus ist.“
„Sie waren alle tot. Die Flüssigkeit tropfte heraus.“
Er legte sich die Hand auf den Bauch. Auf seiner Stirne glänzte Schweiß.
„Sie konnten nicht umfallen. Wie auch.“
Hasan nickte innerlich. Ja, wie.
„Wer macht so was?“
„Ich weiß nicht.“
„Warum stellen sie den Bus einfach ab?“
„Vielleicht hat der Fahrer Angst bekommen?“
Hasan dachte, er sollte auch Angst haben. Jetzt. Aber da war kein Gefühl.

Es gibt drei Birken in Leas Kindheit. Und eine innere Stimme. Keine Ahnung, woher die kommt. Sie liebt den verrotteten Spielplatz im Park mit den Birken. Sandkisten, zwischen denen kleine hölzerne Türme stehen. Der Sand ist dreckig, hin und wieder ein Stück Hundescheiße oder Pisse darin. Manchmal gräbt sie die Insekten ein, die sie getötet hat. Oder sie kramt im Sand nach Regenwürmern und teilt sie in der Mitte auseinander mit ihren kleinen knubbeligen Händen. Auf dem Spielplatz gibt es auch ein Pferd. Wenn Lea darauf schaukelt, gibt es quietschende Geräusche von sich. Eines Tages kippt das Pferd nach hinten und lässt sich nicht mehr aufrichten. Lea ist zu schwer geworden.

Und jetzt dieses Nichts. Himmel und nichts. Man hat sie in einen weiteren Bus gekarrt, nachdem sie eine Nacht lang neben anderen in Decken gerollten Leibern zu schlafen versucht hatten. In ein kleines Dorf gebracht, dessen Namen Hasan weder lesen noch aussprechen konnte. Egal. Ein Mann mit Glatze empfing sie, trug eine Art Kutte, Christ, wusste Hasan Bescheid. Der Priester, würde er später lernen. Er brachte sie in ein großes gelbes Haus.
Das Zimmer, in dem sie zu jetzt siebent schlafen, ist freundlich und hell, lässt den Blick auf einen Garten frei. Mutter hat ihren Platz in der linken Ecke und das blutige Kleid hat eine Nachbarin ausgewaschen. Hasan schläft schlecht. Jede Nacht wird er im Traum mit Wasser angefüllt. Vom Kopf aus. Das Wasser dellt ihn aus. Hasan wird prall wie ein Luftballon. Gleichzeitig träge und schwer. Er fällt. Oder steigt er? Die Richtungen, die Verhältnisse heben sich auf. Hasan versucht zu paddeln, sich zu wehren, aber je mehr er sich bewegt, umso stärker beginnt er zu rotieren. Auf einmal ist da ein Kreisel, der ihn verschluckt, ihn in allen Richtungen herumwirbelt. Nein, aufhören. Ein Ruck durchfährt ihn. Und dann wacht er auf.

Manchmal geht sie auch abends zum Spielplatz, weil die Eltern nicht da sind. Und dort lässt sich die innere Stimme leichter finden. Fremde Sprachen werden gesprochen. In einem der Häuser mit Balkon, die eng ineinander geschachtelt sind, wohnt eine Freundin. Immer will Lea wissen, wie deren Wohnung aussieht. Nie darf sie mitgehen. Lea denkt über die Wohnung nach. Sie weiß, das hat mit Sehnsucht zu tun, für sie ist die Wohnung wie ein Leuchtturm. Gibt es dort vielleicht Ponys mit pinkem oder violettem Haar oder singende Klaviere, deren Knöpfe blinken, wenn man sie drückt? Der Park hingegen ist dreckig. Zigarettenstummeln am Boden. Sie beobachtet die Leute, sie wird angemacht von älteren türkischen Typen, die ihre helle Haut mögen. Sie versteht nicht. Sie ist fünf Jahre alt, fährt mit einem Roller. Manchmal wird es Nacht im Park.

Wieder dieser Traum: nur Meer, Wellen, Stille. Kein Vogel am Himmel. Da vergeht die Zeit anders. Ist alles eingefroren. Das einzige Kontinuum: Ein Auf und Ab der Wellen. Wie: einatmen, ausatmen. Licht glitzert. Hitze sticht. Da ist nichts. Man verliert das Gefühl für alles, denkt Hasan. Es gibt nur die Hoffnung, die einem hilft, zu ertragen. Oder die schwitzende Hand der Mutter. Das Meer und das Nichts. Sonst nichts.
Hasan schreckt hoch und spürt sein Herz wie verrückt pulsieren. Er möchte es am liebsten ausspucken, in die Ecke kotzen. Wer braucht denn so ein Herz.
Langsam und vorsichtig steigt er auf, über die in ihre Decken hineingerollten Körper der Brüder und geht zur Tür, schlüpft in Jacke und Tennisschuhe. Hasan weiß nicht, was er tun soll. Aber gehen muss er. Gehen und gehen. Die Angst aus sich herausgehen. Er legt den Kopf in den Nacken und pustet Rauch aus. Er beginnt zu zittern. Er ist diese Kälte nicht gewöhnt. Fledermäuse zacken in den Himmel hinein, der Kies des einfachen Weges knirscht unter den Sohlen. Da! Hat sich etwas bewegt? Im Park auf dem Spie, auf der Schaukel sitzend, kann er eine kleine Gestalt ausmachen. Ein Mädchen? Hasan hält inne, atmet heftig und formt die Hände in den Manteltaschen zu einem Ball gegen die Kälte. Hasan schaut das Mädchen an. Ihre Haut ist seltsam hell, das Haar schimmert rötlich, steht in alle Richtungen. Ringe unter den Augen. Wie alt sie ist? Ob sie schon blutet, wie die Mutter?
Als er zurückkommt, hat Isil zu weinen begonnen. Die Mutter packt ihre Brust aus. Sie sitzen lange so im Zimmer, die Brüder giggeln, der Vater schweigt nur, schweigt und schweigt und seine Hände sind weit weg.

Die Nacht ist immer ein Abenteuer. Die Nacht ist Rauschen. In dem hat alles Platz. Weil man nichts sieht. Da werden die Stimmen lauter und überlagern sich. Auch Leas Stimme. Sie nennt sie Hieronymus. Hieronymus ist ein Vampir. Sie sieht in den Nachthimmel hinein, als würde sie fernsehen. Hin und wieder schießt ein Vogel über das Himmelzelt, es scheint, als würde er ihn kurz mit seinen Flügeln wärmen.
„Gleich werden die Fledermäuse wach“, sagt Lea zu ihrem Pa.
„Ach, lass mich.“
Seit die Mutter gestorben ist, ist von Pa nicht mehr viel übrig.
„Warum?“
Lea blickt ihn traurig an.
„Zeichne doch lieber deine Vampire und sei still, ich muss arbeiten.“
Lea schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Und geh mit mir ins Schilf, die Fledermäuse suchen. Wie früher. Bestimmt finden wir auch einen Vampir.“
Der Vater schüttelt den Kopf.
„Es gibt keine Vampire. Du glaubst nur dran, weil du die Fledermäuse siehst.“
Lea zwickt ihm in die rechte Backe. Der Vater sieht sie perplex an.
„Es gibt auch keine Engel,“ entgegnet sie wütend. „Und Mama ist bloß tot. Tot, tot.“
 
Wenn die Nacht herankriecht, hat Hasan Angst. Er ist müde vor Angst. Kann nicht schlafen. Im Schlaf schaukelt ihn immer das Meer hin und her. Salz im Haar. Ein Sog, der ihn nach unten zieht. Ein Sog, dessen herrliches Blau trügerisch ist. Wie soll er sich über Wasser halten, Hilfe, Hasan klammert sich an Trümmer, klettert in ein Boot. Nein, es ist kein Boot. Oder: Das Boot ist ein Bus. Dann Filmriss.
Die Eltern sagen, dass alles besser wird, hier, keine Verfolgung, Essen, Arbeit, eine Idee von Leben vielleicht. Hasan sieht kein Leben, nur Wind und Schilf. Und nachts dieses Wasser. Ist das das Leben? Wasser ist gefährlich, findet Hasan. Wasser hat keine Balken. Keine Messer können es schneiden. Woran also sich festhalten? Warum kann er sich nicht auflösen, wie Salz? Dann streift er allein durch die Landschaft. Das Zimmer ist eng, Isil hängt an der Brust der Mutter, Achmed und Karim spielen Fußball, der Vater schweigt, raucht, seine Hand könnte ein Himmel sein über Hasans Kopf, sich wölben über ihn, aber der Vater schweigt und Hasan schämt sich, nach seiner Hand zu tasten. Er ist schließlich der Älteste. Isil weint viel. Vielleicht die Kälte, denkt Hasan. Ihre Haut ist die Kälte nicht gewohnt. Der Wind pfeift, der Kopf sirrt. Schnee fühlt sich an wie Schaum, schmilzt weg unter den Händen und ist dann Wasser und schon wieder vorbei. Hasan hasst Wasser. Er hasst Schnee.

Erst wenn es dunkel wird, wird Lea wach. Oft steht sie nachts am Fenster, fragt sich, wie es wäre, zu fliegen, hinauszufliegen. Dass der Schlaf der Bruder des Todes ist, hat Pa einmal gesagt. Seitdem mag Lea den Schlaf nicht mehr. Sie will ewig leben. Nicht irgendwann fort sein, so wie die Mutter. Ein Vampir werden. Das ist ihr großes Ziel. Aber nicht so. Dass sie sich dafür verwandeln muss, ist Lea irgendwie klar. Sie schläft schlecht, knirscht mit den Zähnen, zerbeißt ihr Kopfkissen. Man lässt ihr eine Zahnspange machen, die ihr den Kiefer gefangen hält.
Ich hätte lieber Eckzähne, erklärt Lea dem Zahnarzt. Denn sie hat auch einen Vampir, ganz geheim. Der spricht in ihrem Kopf. Einmal ist er ihr auch im Park begegnet, nachts. Aber das sagt Lea keinem.

Hasan streift durch die Landschaft. Die Ohren zugestöpselt. Popmusik, und er setzt die Schritte im Schilf fest und bemüht bestimmt. Die Rhythmen wecken ihn auf, helfen, dass er nicht zerrinnt.
„Hej, Bruder!“, schreit es da aus einer Richtung.
Es ist Arif, der im Zimmer nebenan schläft. Er ist nur ein bisschen jünger als Hasan. Hasan grinst. Zieht einen Stöpsel aus dem Ohr. Arif sitzt in einer zusammengenagelten Bretterbude in einem der Bäume und grinst.
„Hab ich gefunden. Nicht schlecht, oder?“
Hasan nickt und nähert sich. Arif streckt die Hand nach ihm aus, zieht ihn ein Stück weit in die Höhe. Es knirscht.
„Schau!“
Arif hält Hasan sein iPhone unter die Nase. Das Bild zeigt Mann und Frau, ineinander verschlungen, aus dem iPhone knarrt Stöhnen. Hasan senkt den Blick. Er weiß nicht, warum er nichts fühlt. Früher schon hat er diese Filme gesehen. Mit einem schweren und guten Gefühl im Bauch, einem Ziehen, Kribbeln. Davon ist nichts mehr übrig. Nur noch Wasser, Wasser, Wasser in seinem Kopf. Hasan zieht ein wenig Rotz auf und schaut in die Weite des Himmels. Da entdeckt er eine Gestalt am Horizont, die den Schilfweg entlanggeht.

Dann zieht Lea ihr Vampirkostüm an, malt sich die Lippen dunkel und streift allein durch die Landschaft. Nein, stimmt nicht. Sie hat ihren Plastikhund mit. Den mit den rosa Zotteln. Sie weiß, mit dreizehn sollte man solche Hunde nicht bei sich haben. Aber er erinnert an die Mutter, irgendwie. Der Himmel sieht aus, als würde er verbluten. Das mag Lea. Die Wolken liegen zerteilt in ihm drin, kommen ganz nah an den Boden heran. Wenn es silbrig ist in der Luft, denkt Lea, dass einer der Vampire sein langes Haar hinter sich herzieht. Als eine Art Schleppe oder so.
„Du träumst“, sagt Pa dann immer.
„Na und?“
„Du träumst mit offenen Augen, weil du zu wenig schläfst.“
Da hat er recht, denkt Lea. Sie mag eben nichts versäumen. Dass das Leben kostbar ist, hat sie begriffen, obwohl sie noch jung ist. Mama war zu früh weg gewesen. Und sie würde nicht wiederkommen. Lea seufzt und tritt Schilf zu Boden. Es dämmert.
Hin und wieder, wenn sie in die Finsternis hineinstarrt, kommt es ihr so vor, als würde sie die Spitzen eines Umhangs sehen, aber die Nacht ist dunkel, und es kann sein, dass sie doch schläft und träumt. Ein Hund bellt, und der Depp aus dem Dorf, der lange Hans, der immer alle küssen will, irrt über die Straße. Sie weiß, dass er die echten Vampire kennt. Am nächsten Tag beschließt sie, ihn zu fragen.
„Onkel Depp, wo kommen die Vampire her?“, fragt Lea und zieht die Wollmütze tiefer ins Gesicht hinein.
Seine Augen verdrehen sich nach oben, er drückt einen seiner Handstümpfe gegen Leas Stirn. „Feder“, sagt der Depp.
„Ja, Fledermäuse. Genau“, nickt Lea.
„Brut“, sagt er.
„Aha.“
Lea versteht nicht ganz, aber sie nickt. Sieht seinem Finger nach, der in die Schilflandschaft hineindeutet, zum See, an dem Lea im Winter eigentlich nicht spielen darf, weil angeblich das Eis bricht. Da muss sie also hin. Ans Wasser.
Lea geht durch das Schilf. Manchmal ist alles sinnlos, denkt sie. Besonders im Winter. Auch die Flüge der Fledermäuse langweilen sie, und das Heulen der Wölfe interessiert sie nicht mehr. Seit die Mutter weg ist, scheint die Welt in Watte gepackt. Alles ist weit weg. Auch Pa ist weit weg. Und die Großmutter
„Wo gehen?“, ruft Hasan, einer der Flüchtlinge, ihr nach. Er hockt in einem der Baumhäuser und raucht. Aber Lea hört gar nicht erst hin. Sie geht weiter. Alle Zeichen werden gedeutet. Werden als Hinweise auf den Vampir gelesen. Das Surren des Flugzeuges vielleicht ein Flügelschlag, das Rascheln eines Fasans zwischen den Sträuchern vielleicht doch seine Schritte? Lea dreht die Welt um.

Hasan sieht der Gestalt nach. Er weiß sofort, dass es das Mädchen aus dem Park ist, und kann nicht sagen, wieso. Sie ist klein und hat Ringe unter den Augen. Wahrscheinlich ist sie dreizehn Jahre alt. Sie lebt bei der Frau, die ihm neulich einen Kuchen zugesteckt hat. Der alten, faltigen Frau, die immer die Augen zusammenkneift, als würde ihr das Licht zu hell sein. Ob sie keine Mutter hat? Hasan kennt die Richtung, er hat die Landschaft erobert. Das Mädchen geht zum See.
„Die feiern bald“, sagt Arif.
Hasan blickt auf.
„Merry X-mas“, nickt er.
„Weißt du“, fragt Hasan plötzlich, „ob Anahita in diesem Bus war?“
„Du meinst, in dem mit den Toten?“
„Ja.“
Keine Ahnung.“
Stille.
„Die haben gesagt, da ist alles rausgetropft, wie sie die Tür geöffnet haben“, sagt Arif mit einer Mischung aus Bewunderung und Ekel. Wasser, Wasser. In Hasans Kopf werden die Gedanken fortgespült.
 
Als Lea beim See angekommen ist, scheint alles seltsam klar zu sein. Das Eis knirscht unter ihren Füßen, ein prickelndes Gefühl breitet sich im Bauchraum aus, während sie die gefrorene Oberfläche betritt. Sie rutscht ein wenig, strauchelt, wäre fast zur Seite gekippt. Sie legt den Kopf schräg, blickt in den Nachthimmel. Ist da etwas Dunkles, Fliegendes? Die Luft riecht nach Leben und Kindheit. Die eigene Kindheit scheint weit fort zu sein. Da knackst es. Dann: Bodenloses und eine Hitze, die eine Kälte ist. Lea sinkt, und dabei ist es, als würde sie fliegen.

Hasan weiß nicht, warum. Aber er springt. Springt vom Baum und läuft dem Mädchen nach. Da ist auf einmal wieder die Angst und ein Bild von Anahita, das sich über das des Mädchens schiebt. Was Anahitas Haar wohl für eine Farbe hat? Da wandert sie vor ihm her, eine zarte, kleine Gestalt, geht, hüpft durch das raschelnde, semmelblonde Schilf. Ihre Schritte setzt sie schnell und fest. Fast sieht es vergnügt aus, findet Hasan. Vorsichtig geht er ihr nach. Schließlich erreichen sie den See. Hasan stockt. Sein Traum fällt ihm wieder ein, Wasser, und er möchte eingreifen, als das Mädchen die verschneite Oberfläche des Sees betritt. Aber er ist wie schockgefroren. Die Kälte kriecht in seinen Kragen hinein, kriecht durch die lächerliche Wollmütze, die der Priester ihm geschenkt hat. Wasser, überall, in Hasans Kopf.
Dann ein Knirschen, ein Riss, der über die Oberfläche läuft und Hasan zieht es die Brust zu. Er macht einen Schritt in Richtung See, automatisch, es ist wie atmen. Endlich, die Starre in ihm hat sich gelöst. Hasan hält inne. Das Handy. Er muss. Hasan tippt die Nummer ein. Kein Empfang. Vierhundert Tote, dröhnt es in seinem Kopf, und er beginnt zu laufen. Der eigene Atem als Rauch vor seinen Augen, die Nacht presst sich gegen die Schultern, egal. Hasan hört, wie der Morast unter seinen Beinen quatscht, er stolpert, strauchelt, Bauchstechen, nein, er wird nicht aufhören zu laufen. Aus den Fenstern des Dorfes dringen vereinzelt Lichter in seine Richtung, kommen näher, schwellen an zu Quadraten, Fenstern in Häusern. Hasan kennt den Weg, obwohl er ihn noch nicht oft gelaufen ist, die Schritte sprudeln, es geht sich von selbst, auch wenn das Stechen, wenn – 
Hasan klopft an die Haustür. Der Priester öffnet. Riecht nach verfaulten Trauben und atmet schwer. Hasan kratzt in seinem Kopf die letzten Reste Englisch zusammen, an die er sich erinnert, formt sie zu einem Satz: „Girl. In the sea.“ Der Priester sieht ihn unverwandt an.
„Was?“
Hasan hält ihm das Mobiltelefon hin.
„Girl. Sea. Ambulance“, sagt er.
Der Mann schüttelt den Kopf.
„I asleep!“, erklärt er, während er in sein Festnetz eine Nummer tippt.
Hasan nickt, holt tief Luft und macht am Absatz kehrt.
 
Viel später sieht Lea ein Gesicht.
„Hasan!“
Blaulicht und ein Gefühl, das langsam in die Zehen zurückkommt. Lea merkt, dass es Kälte sein muss. Sie ist begleitet von einem irren Schmerz. Die Füße tauen auf. So fühlt es sich an, am Leben zu sein.
„Gut?“, sagt Hasan.
Dann lange nichts. Dann noch einmal:
„Gut?“
Lea schweigt und sieht ihm lange in die Augen.
„Du bist ein Vampir, oder?“, fragt Lea.
Hasan versteht nicht. Er kramt in seinem Kopf nach einem Wort, aber er findet keines.
„Gut?“, wiederholt er noch einmal.
Lea nickt.
„Danke“, sagt sie irgendwann.

Hasan sieht das Mädchen an. Für einen Moment hat er die Träume vergessen. Wieder schiebt sich Anahitas Gesicht über ihre Züge. Da ist nichts. Nur Stille und Wind. Hände, die nicht so weit weg sind, wie die des Vaters. Hasan greift nach ihnen. Die Hände sind kalt. Sie lassen sich leicht zu einer Faust zusammendrehen und zwischen seine Finger nehmen. Hasan blickt in die großen, dunklen Augen des Mädchens, das schwer atmet. Es dauert, bis er spürt, dass er weint.

Es ist also Winter geworden. Der Schnee ist eine dunkle Soße und kriecht als Nässe durch die Schuhe hindurch, Lea tritt das Schilf zu Boden, dass es knirscht. Sie liebt die Gegend hier, die kleinen Bäume vor allem. Krüppelbäume, denkt Lea, mit dornigen Ästen. Sie fühlt sich wie ein Marshmallow in ihrer Bomberjacke. Es kommt ihr vor, als würde ihr Gesicht fast unter der Kapuze verschwinden.
Seit Lea fast im See eingebrochen wäre, ist alles anders. Pa redet wieder. Die Großmutter hat weniger Migräne. Und manchmal macht die Dunkelheit wieder Angst. Mit der Angst kommen auch andere Gefühle wieder. Wie der Schmerz zum Beispiel und die Trauer, wenn das Gesicht der Mutter im Kopf auftaucht. Und die Freude. Nacht macht keine Angst mehr. Es ist, als würde die Watte auftauen. Dabei ist doch Winter.
Pa und Lea streifen durch den Wald und suchen nach Moospolstern. Lea liebt diese grüne Watte. Sie hält das Taschenmesser zwischen den Fingern. Die Fäustlinge hängen ihr am Handgelenk, baumeln so herum. Sie suchen zwischen Gebüsch. Da: Weiches. Warmes. Es hüpft in Leas Bauch.
„Ich hab´s“, ruft sie.
Sie lässt das Messer rausschnalzen. Wandert mit der Kante unter den Polster und ruckelt herum. Leicht. Ein Geruch nach Torf und Erde. Langsam löst Lea etwas Grünes vom Boden, das kleine Fetzen Schnee beflecken. Ein schmutzig weißer Kloß zerrinnt ihr zwischen ihren Händen. Darunter bleibt das Moos übrig.
Lea legt den Polster in die Plastiktasche und steht auf. Die Bomberjacke raschelt. Sie streift weiter neben Pa her. Stumm. Gleich würden sie das Haus der Großmutter erreichen. Da piept ihr Handy.
„You vampire“, liest Lea und sie grinst. Es ist Hasan. Das Kostüm, das sie ihm neulich gezeigt hat, hat ihn offenbar beeindruckt. Wieder hüpft es in ihrem Bauch, diesmal tiefer, stärker noch als beim ersten Mal. Grinsend stapft Lea weiter, bis sie das Haus der Großmutter erreichen. Lea klingelt Sturm. Die Großmutter öffnet. Sie lächelt. Ihr Blick ist warm. Sie sieht froh aus, so, als hätte sie keine Migräne. Lea fällt ihr in die Arme.
„Wir haben Moos mitgebracht, wie jedes Jahr“, sagt sie.
„Ich freue mich“, sagt die Großmutter.
Lea betrachtet die alte Frau. Ihre Haut ist ein wenig faltig, die Augen aber blitzen hell und blau und sehen unendlich jung aus. Gemeinsam gehen sie ins Wohnzimmer und Pa legt das Moos in die Krippe. Zwischen pastellfarbene Holzfiguren, denen eine grellgelbe Scheibe hinterm Kopf leuchtet. Das soll der Heiligenschein sein, hat man Lea erzählt, als sie ein Kind war. Die Holzfiguren sind scharf geschnittene Konturen und dünn wie Papier. Flachmenschen, hat Lea als Kind gedacht. Und: Die kippen nach hinten. Lea hat sie aufgerichtet, immer wieder. Das war ein Spiel damals. Gelacht hat Lea. Und: Sie haben gesungen: Stille Nacht. So singen sie auch heute. Und tatsächlich, es passt. Denn es ist stiller geworden in Lea. Später reichen sie einander Päckchen in buntem Papier.
„Ich dachte, es ist bestimmt das Richtige“, meint die Großmutter und lächelt. Lea öffnet ihr Päckchen. Es raschelt. Zunächst traut sich Lea gar nicht, es zu glauben. Aber als sie mit der Hand zwischen das Papier fährt und diese auf Weiches stößt, ist sie überzeugt, dass ihre Intuition stimmt. Sie schreit vor Begeisterung.
„Ein Vampirumhang!“
Den wird sie Hasan zeigen. Die Augen der Großmutter blitzen, und Pa zwinkert ihr zu.
„Für die Untoten unter uns“, sagt er leise.

 

  • Sophie Reyer wurde 1984 in Wien geboren, wo sie heute auch lebt. Nach Abschlüssen in Komposition/Musiktheater (M. A.), Szenisch Schreiben (Diplom) sowie einem Studium Drehbuch und Filmregie an der Kunsthochschule für Medien Köln erlangte sie 2017 den Doktor der Philosophie in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen von Theaterstücken und Romanen. 2010 und 2013 Literaturförderpreis der Stadt Graz, 2013 Preis „Nah dran!“ für das Kindertheaterstück Anna und der Wulian. Reyer gibt zudem Lehrgänge an der Uni für Film-, Medien- und Theaterwissenschaft Wien und der Pädagogischen Hochschule Hollabrunn. Sophie Reyer im Netz.

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