Textreihe (27): Michael Vögel

Mit den Worten „Bin gleich wieder da“ haben sich schon so manche Menschen auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Oder sich Helden furios aus Geschichten herausgeschrieben. Der Reisende im Text von Michael Vögel, unseres zweiten Gastes 2019, ist ein Getriebener, ein des Lebens Müder, ein Lügenbaron, ein grenzüberschreitender Abenteurer ohne Furcht und Tadel. Einer von heute?
Im Frühjahr letztes Jahr debütierte der in Vorarlberg lebende Autor mit seinem sprachgewaltigen und entblößenden Roman Quasi Jesus im Wiener Czernin Verlag. Sprache und Stil finden sich auch im vorliegenden Auszug (hier als PDF) aus seinem aktuellen Romanprojekt Vom Es und vom Kapieren wieder, das „in der Welt und hauptsächlich im fernen Kirgistan“ spielt. Für Vögel bedeutet sein Schreiben, das Lösen von „Kampf und Krampf“ und der Übergang in „einen möglichst fließenden Zustand“. Mitreißen solle es und „Raum schaffen, in dem es klingen und auch missklingen darf, und sich darum Spannung ergibt“./sw

 

Vom Es und vom Kapieren

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Jetzt aber, wie ich da auf mein Leben schaute und mich bloß als Protagonist in einer Lügengeschichte wiederfand, packte ich meine beiden Beine und meine Sporttasche, schrieb Trude und den Kindern einen Zettel: bin gleich wieder da, log schon wieder und lief, rannte fort von dieser Gewissheit und meinem Gewissen und vor allem auch aus meinem als Werbetexter verdingten Leben, in dem ich lügen musste wie gedruckt, ließ die unzähligen anderen begonnenen und gescheiterten oder auch nur ersonnenen Lebensentwürfe hinter mir und floh zu einem Busbahnhof, von dem aus es in die Ferne ging. Auf einem silberbläulichen Bus mit weißen Streifen fand ich Chişinău geschrieben. Obwohl ich gerade nicht wusste, dass Chişinău in Moldawien liegt und die Hauptstadt ist, beschloss ich dorthin ein Ticket zu kaufen. Ich stieg gleich ein, verstaute meine Tasche in der Ablage über dem Sitz zwischen unzähligen anderen Taschen und Tüten, hangelte mich an der aufgeblähten schwarzen Lederjacke meines finster dreinblickenden Sitznachbarn vorbei auf meinen Platz und konnte es wie ein Kind kaum erwarten, bis es endlich losgehen würde, hinüber in den Osten, denn so viel wusste ich von meinem Reiseziel. Nach fünfundvierzig Stunden stieg ich matschig wie eine überreife Birne endlich in Chişinău aus. Was sollte ich in dem verschlafenen Städtchen anderes tun, als ins nächste Freudenhaus zu gehen? Ich blieb nicht lange, schnell kam ich immer und schnell ging ich wieder, weiter, fort, der aufgehenden Sonne entgegen und darum immer weiter gen Osten. Was schien mir das auch auf einmal für ein Leben: so reisen auf Teufel komm raus! Wer wollte die Wochen zählen, die Monate, bis ich wieder zurückkommen würde? Trude zählte sie und zählt sie noch immer. Und ich mit ihr.

Von Moldawien ging es durch die Ukraine nach Russland, zum Spottpreis mit den Bummelzügen von Stadt zu Stadt. Ich sah hässliche, graue Betonbunker, von den Schloten halb zerfallener Fabriken angerußte Käfigburgen, befallen von einem Ausschlag an Sattelitenschüsseln, die lächerlichen letzten Auffangbecken für die hier an den Rändern der Existenz klaffenden Menschen. In den engen, hoffnungslos überfüllten Zugabteilen schwitzte ich mich an den Kunstlederbezügen fest und betrank mich mit den an mir klebenden Einheimischen mit billigem Wodka. Je schlimmer die Räusche, desto mehr fühlte ich mich der großen russischen Seele verbunden, ja ich wurde zum russischen Bären, als ich, unter dem Klatschen der mich umlagernden Einheimischen, auf einem Abteiltisch zu tanzen begann. Unzählige Male verpasste ich den Anschlusszug oder fuhr in die komplett falsche Richtung. Fand mich völlig verkatert an verwahrlosten Bahnhöfen von Städten wie Novohoperskij oder Grjasi wieder. Einmal wurde ich dabei, von allen guten Geistern verlassen und völlig hilflos, ich wusste nicht einmal, wie das Kaff hieß, in das ich gefallen war, von einer verwitweten Hausfrau aufgelesen. Sie lud mich zu sich nach Hause ein und servierte schwarzen Kaffee und frische Piroggen. Als ich auf dem Diwan unter einer blumenbestickten Decke schon längst am Schlafen war, kam sie zu mir und setzte sich auf mich drauf, drückte mir ihre beiden am Oberkörper baumelnden Kohlköpfe in mein Gesicht und rieb ihr prächtiges Hinterteil dabei an meinem Hosenschlitz. Während ich in ihrem Fleisch versunken war, sang sie schwermütige russische Volkslieder, dann warf sie mich fluchend aus ihrem Haus. In Dscherschinsk stolperte ich vor eine Chruschtschowka und wurde von einer rappenden Jugendgang prompt ausgeraubt. Da ich mich ihnen gegenüber völlig gleichgültig und furchtlos und darum vorbehaltlos, ja sogar freundlich zeigte, ihnen meinen Ausweis zum Verrauchen anbot, luden sie mich anschließend zum gemeinsamen Versaufen der Beute ein. Natürlich verschwieg ich ihnen, wo überall an und in meinem Leib ich sonst noch mein Geld versteckt hielt.

Nur in Samara zog es mich tatsächlich einmal von dem tristen Bahnhofsgelände in die Innenstadt hinein, für die ich allerdings kaum einen Blick übrig hatte. Denn vor meinem Auge tummelten sich Schönheit um Schönheit in Form von über das Pflaster stöckelnden Frauen. Eine bezaubernder, betörender, vernichtender als die andere. Ich verlor komplett den Verstand. Schlimmer beduselt als vom ärgsten Wodka taumelte ich durch die Gassen, mein süchtiger Blick in einem wunderschönen an mir vorüberfliehenden Gesicht nach dem anderen sich verlierend, sich verzehrend. Ich war zum Anschauen verdammt, zum Gehenlassen. In einem Paradies war ich, das zur Hölle wurde, fing ich an nach seinen Früchten greifen zu wollen – nein, ich wollte keiner der Frauen meinen Familiennamen geben. Ich floh noch am selben Abend in den nächsten Zug nach Irgendwohin. Mein gepiesacktes Geschlecht brannte vor Schmerz, während mir die vielen schönen Gesichter in Erinnerungen wieder und wieder durch den Kopf schwebten, wo sie unablässig an mir weiternagten, nur um mich in der Wirklichkeit eines vollgepferchten Abteils auszuspeien, das nach dem Schweiß fetter, von der Arbeit im Haus und am Hof verzehrter Landfrauen stank.

So ging es hinfort mit mir bis nach Sibirien, immer weiter ins Sibirische hinein, wo ich von den Einheimischen, den Nachfahren verurteilter Mörder und deportierter politischer Dissidenten herzlich empfangen wurde. Die Gastfreundschaft war immens, solange ich mich trinkfest zeigte, und gesoffen wurde alles, was einem die Schwere des weiten, sumpfigen Landes aus dem Gemüt trieb oder einem erleichterte die Mückenplage anzunehmen. Bei einem Ritual in einem kleinen Dorf schluckte ich die Pisse eines Schamanen, angereichert mit berauschendem Muscimol eines zuvor von dem Mann verspeisten Fliegenpilzes. Erst wurde ich unendlich schwer, konnte mich nicht mehr bewegen. Bemerkte, wie aus mir Myzele in den Boden wuchsen, auf meinem Kopf trug ich plötzlich einen großen, roten Hut mit weißen Flecken und aus den Lamellen drang der Duft des Waldbodens. Ich spürte die ganze Kraft der Erde in mich dringen und mich in meinem Stiel verfestigen, der ganze Dreck der Welt zog in mich hinein und bis in den Hut hinauf, wo ich gereinigt wurde, während ich wuchs und wuchs und so groß wurde, bis die ganze Erde sich unter mir befand und ich mich über sie hinweg als feuriger Regen ergoss, dass Totenstille herrschte.

(Auszug aus dem Romanprojekt)

  • Michael Vögel wurde 1977 in Oberstdorf/Deutschland geboren, wuchs im Kleinwalsertal auf und lebt heute auf einem kleinen Hof im Bregenzerwald. Zahlreiche längere Reise und Besuche alternativer Lebensgemeinschaften. 2006 erschien sein Lyrikband Bluten und Blüten im Engelsdorfer Verlag. 2017 erhielt er für das Fragment Im Anfang war das Wort beim Vorarlberger Literaturpreis ein Arbeitsstipendium. 2018 Quasi Jesus im Czernin Verlag.

 

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