Alberto Vigevani: Sommer am See (Friedenauer Presse)

Einmal im Leben wieder Giacomo sein. Wer kennt ihn nicht, diesen heranreifenden Vierzehnjährigen, empfindsamer und getriebener Jüngling aus Alberto Vigevanis bittersüßer Erzählung Sommer am See von 1958? Erstmalig in deutscher Übersetzung (mit einem Nachwort der Übersetzerin Marianne Schneider) kam das Büchlein 2007 in der Friedenauer Presse heraus, jetzt, pünktlich zum zwanzigsten Todestag des Autors, erscheint eine Nachauflage – und zwar im gleichen liebevollen Gewand in der Reihe „Wolffs Broschuren“, nur, auch erstmalig, ohne Folienverpackung.
Nichts hat die Geschichte einer éducation sentimentale von ihrem Schmelz, ihrem Zauber eingebüßt, dabei spielt sie in der weit vergangenen Epoche der Dreißigerjahre. Präzise erinnerte endlose lichte und träge Sommertage. Gleichsam mit dosierter Ironie wie mit Zärtlichkeit erzählt Vigevani von den seelischen und körperlichen Erschütterungen seines Helden, für den dieser eine Sommer mit Familie am Comer See sich als eine schwebende Zeit zwischen Begehren, Erweckung ebenso wie Nöten und Verdruss entwickeln sollte. Alles beginnt mit dem Duft der Haare einer Frau.
Souverän lässt Vigevani Gefühlsbeschreibungen und Naturphänomene ineinanderfließen, wenn die Jugend weint, weint der ganze Himmel. Hilfe, die Pubertät! Aber es geht auch ohne das Wort. Jedenfalls bei Vigevani, und das auf höchst anrührende Weise. Ein Stück makelloser Literatur. Also, wer Giacomo doch noch nicht kennen sollte …

Dass es den 1963 in Berlin-Friedenau gegründeten bibliophilen Verlag noch gibt, ist einer „Rettung in letzter Minute“ zu verdanken, als Friederike Jacob 2017 die Geschicke aus den Händen der altgedienten Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff übernimmt und nahtlos an deren Leidenschaften und „Winterbücher“ anknüpft. Das Programm dreht sich wie eh und je um Entdeckungen, „gleich aus welcher Zeit und Sprache, um Novitäten ebenso wie (zu Unrecht) Vergessenes, Ausgrabungen, die unerkannt in Archiven, Anthologien und Gesamtausgaben schlummern“. In diesem Frühjahr finden sich dort neben Vigevani schöne Ausgaben von Wsewolod Petrow (Preis der Hotlist 2013), Gertrude Stein und Alexander von Humboldt.

 

„Sommer am See spielt in den Dreißigerjahren im Kreis des Mailänder Bürgertums. Die Erzählung handelt von der Zeit zwischen dem Ende der Kindheit und dem Eintritt in die Welt der beinahe schon Erwachsenen, der Großen“, wie Giacomo sie nennt. Zu seinem Eintritt in die Welt der Erwachsenen gehört die obligate Einführung in das Liebesleben und die Erziehung der Gefühle, die die ganze Umgebung des Jungen einschließt: seinen Vater, seine Schwester, die Freunde. Er verliebt sich erst in das junge Dienstmädchen Emilia, danach in eine englische Dame und gewinnt seine ersten Erkenntnisse, die ’nicht nur die Sehnsucht nach Harmonie und Schönheit, sondern auch ein Streben nach Auflösung, nach Selbstvernichtung‘ bedeutet.
Die Dame hat einen etwas kränklichen Sohn, mit dem sich Giacomo zunächst aus Liebe zur Dame anfreundet; schließlich entsteht zwischen den beiden Jungen eine Freundschaft, Giacomo fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben als der Größere, der Gebende. Die Geschichte endet mit dem beginnenden Herbst, mit neuer Melancholie … und dem Erwachsenwerden.“ (gekürzter Verlagstext Friedenauer Presse)

  • Alberto Vigevani: Sommer am See. Eine Erzählung. Berlin: Friedenauer Presse 2019. 128 Seiten. 7. Auflage. Fadengeheftete französische Broschur.

Senta Wagner

Im Gespräch mit Marco Vigevani

Im Gespräch mit der Friedenauer Presse anlässlich des Todestages von Alberto Vigevani erinnert sich sein Sohn an das Aufwachsen zwischen Bücherstapeln, gemeinsame literarische Vorlieben und daran, wie die Flucht vor den Faschisten im Leben des Vaters nachhallte.

Marco Vigevani, Ihr Vater Alberto hat sein Leben den Büchern gewidmet. „Die Bücher sind wohl mein Schicksal“, sagte er. Wie wächst man auf als Kind eines Bibliomanen?
Wie wächst man als Kind eines Försters auf? Von Bäumen umgeben! So war es auch bei uns zu Hause: Eine ganze Etage unserer Wohnung war der Bibliothek gewidmet. Wenn ich den Vater in seinem Büro in der Stadt aufsuchte, befand ich mich in einer antiquarischen Buchhandlung umgeben von mysteriösen, ledergebundenen Werken. Oder, falls er im Verlag war, von Stapeln frischgedruckter Exemplare einer Neuausgabe, fertig für die Spedition. Nach seiner täglichen Siesta schloss sich mein Vater in seinem Studio ein, von dort sickerte stundenlang das Klack-Klack der Triumph-Schreibmaschine bis in mein Schlafzimmer. Wenn er fertig mit dem Schreiben war, gab er mir öfter die wenigen Seiten zu lesen, die er gerade zum x-ten Mal korrigiert und poliert hatte. Ein- oder zweimal im Monat kamen Gäste zum Abendessen, darunter auch befreundete Schriftsteller und Dichter. Als Jugendlicher half ich beim Servieren, durfte von meinen Studien erzählen und an der allgemeinen Konversation teilnehmen.
Lesen, schöne moderne oder antike Bücher durchzublättern und zu bewundern, über das Gelesene zu diskutieren, gehörte bei uns zum Alltag. Trotz alledem hat mein Vater mich nie zu einer literarischen, verlegerischen oder buchhändlerischen Karriere angeregt, es war wahrscheinlich einfach die Umgebung, der »Wald«, der auf mich wirkte.

Die erste Buchhandlung Ihres Vaters, La Lampada, war während der faschistischen Diktatur eine Anlaufstelle für Oppositionelle, 1943 floh er ins Schweizer Exil. Wie haben diese Erfahrungen das literarische Werk Ihres Vaters beeinflusst?
Das ist schwer zu beurteilen. Sicherlich waren die rassistische Verfolgung, das Ausharren in Mailand unter dem Bombenhagel, die Flucht in die Schweiz mit seiner jungen Ehefrau und dem sechsmonatigen Kind prägende Erfahrungen seines Lebens. Die Sorgen um das Brot – im weitesten Sinne des Wortes – und überhaupt um die Familie waren für ihn immer präsent. Es gab eine existentielle Angst, dass all das schwer Errungene – im privaten aber auch im öffentlichen Leben – wieder verlorengehen könnte.

Vielen der Helden Ihres Vaters begegnen wir in ihrer Reifezeit. Auch der Erzähler Giacomo in Sommer am See steht an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Welche Rolle spielten diese Jahre für Ihren Vater?
Mein Vater hat seine Mutter wenige Monate nach seiner Geburt an die spanische Grippe verloren, und sein innig geliebter Vater starb, als er kaum 18 Jahre alt war. Die frühen Lebensjahre und die Reifezeit waren der Kern und der Keim sowohl seines Lebens als auch seines literarischen Schaffens. Nicht von ungefähr war Proust sein literarisches Vorbild.

In Ihrer Familie ist der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen – Sie sind heute Literaturagent. Welche literarischen Vorlieben haben Sie von Ihrem Vater übernommen?
Viele, sehr viele. Die großen jüdischen, zum Teil amerikanischen Schriftsteller wie Bellow, Malamud, Roth, die beiden Singer aber auch Thomas Mann, Kafka, Joseph Roth, Celan, Canetti und viele andere. Nur für Proust kann ich mich bis heute nicht begeistern, obwohl ich mehrmals versucht habe, die Recherche zu lesen. Mein Vater war auch ein leidenschaftlicher Leser von Geschichtsbüchern: Bloch, Braudel, Shirer, Gibbon und andere waren alle in seiner Bibliothek vertreten. Dieses Interesse für die Geschichte habe ich wahrscheinlich von ihm übernommen.

Dank an Friederike Jacob für das Gespräch!

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