Katharina Mevissen: Ich kann dich hören (Verlag Klaus Wagenbach)

Vom Spüren und Hören ins Sprechen, Sehen und Leben kommen. Vom „Töne halten“ ins Festhalten von „Händen, Dingen und Menschen“.

Suat ist einer, ohne den es immer ging und gehen musste. Seine Welt ist die Musik, nicht die Familie, die war „nebenher“, und nicht einmal er selbst. Suat, das sind große, weiche Musikerhände, die aber nicht festhalten oder zupacken können, und Suat steht für Abwesenheit. Auch nach mehreren Jahren der Funkstille und des räumlichen Abstands zwischen Suat und seinem Sohn Osman hat sich an der Unfähigkeit der beiden, miteinander zu kommunizieren, nichts geändert. Wie zwei Fremde reden sie aneinander vorbei, ihre erste Begegnung nach der langen Zeit ist ein Gefälle an Wahrnehmungen: Der eine sieht die Dinge so, der andere so.

Osman, der Mitte zwanzigjährige Erzähler, sitzt also seinem Vater ebenso ohnmächtig wie wütend gegenüber: „Ich weiß nicht, wie man das macht, über Familie sprechen, über Vergangenheit, über irgendetwas wirklich sprechen.“ Die Mutter hat sich schon lange davon gemacht und mit ihr auch ein Familiengeheimnis, da waren Osman und sein Bruder gerade einmal zwei und drei Jahre alt. Sie wachsen bei Tante Elide, der Schwester des Vaters auf, beide sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Hier durchziehen nicht nur türkische Einsprengsel, sondern auch Fragen nach Herkunft und Heimat dezent den Text.

In dem volltönenden und sensiblen Romandebüt Ich kann dich hören von Katharina Mevissen, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, weckt Musik Emotionen, deckt aber auch Schweigen zu. Wo Musik ist, braucht es keine Worte. Mevissen erzählt das schmerzlich genau und bildstark. Bereits mit vier Jahren erlernt Osman das Cellospiel, es wird kein Tag mehr ohne vergehen. „Sie würden nicht glauben, dass Musik ein Biest sein kann, das dich von innen drangsaliert und keinen Ton in dir übrig lässt.“ Allein im Fußballspielen und mit seinen „Fußballjungs“ findet Osman noch eine Möglichkeit des Ausdrucks und des Alltags jenseits der Musik. Das Versagen des Vaters setzt sich dennoch wirkmächtig in der gelebten Beziehungslosigkeit des Sohnes fort, der am liebsten allem Zwischenmenschlichen aus dem Weg geht. Auch als die Tante um Hilfe bei der Wohnungsauflösung bittet, weicht er aus. Diese bedeutet eine unvermeidliche Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, bisher eine „unzuverlässig erzählte Geschichte“.

Da stolpert Osman quasi über sein Glück, in Form eines Diktiergeräts, das er an sich nimmt. Er beginnt zu hören, ist faszinierter Ohrenzeuge von den fragmentierten Tracks einer eigenartigen Urlaubsreise, gesprochen von der „unerschrockenen Stimme“ einer jungen Frau. Die Aufnahmen erzeugen einen ganz eigenen Resonanzraum, in dem selbst die Stille zum Geräusch wird. „Ungefilterte Gefühle“, eine Ton- und Stimmorgie, einem Klangteppich gleich, dringen auf Osman ein, der die Aufnahmen immer und immer wieder hört, während das alles etwas mit ihm macht. Mevissen überzeugt dabei sprachlich mit tollen plastischen Beschreibungen, etwa wenn ein „Tongemisch klebt, nässt und brennt“. Osman versteht, dass die Sprecherin Ella heißt und mit ihrer gehörlosen Schwester Jo unterwegs ist. Hier herrscht nun Versehrtheit auf einer anderen Ebene, wenn die Kommunikation über die Lautsprache versagt. Das Bedürfnis nach Verbundenheit bleibt: Mevissen stellt mit viel Einfühlungsvermögen die Gebärdensprache zur Disposition und betont deren Eigenständigkeit. Als Osman beginnt, das Diktiergerät zu bespielen, scheint er bei sich angekommen zu sein.

Senta Wagner

  • Katharina Mevissen: Ich kann dich hören. Quartbuch. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2019. 168 Seiten. 19,50 Euro. Auch als E-Book.

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