Textreihe (30): Martin Peichl

Mit Wonne, wie es sich gehört im Mai, feiern wir die dreißigste Ausgabe unserer Textreihe „Indie-AutorInnen schreiben“ mit einem besonderen Special aus Wien: Martin Peichl spendiert Gedichte auf Bierdeckeln, spricht ausführlich über seinen innen und außen schönen, schönen Debütroman Wie man Dinge repariert (Edition Atelier 2019) und setzt mit dessen kurzer Fortsetzung noch eins drauf.
Im besten Fall hat man nach der Lektüre von allem sofort Lust, auch noch das Buch zu verschlingen. Kann es sich in der Literatur, nicht nur im Mai, um Schöneres drehen als um die Liebe? Peichl stellt sie kunstvoll zur Disposition. /sw

Gespräch mit Martin Peichl

Lieber Martin, wie ist dein Beziehungsstatus und hast du heute schon ein Bier getrunken? 

Liebe Senta, ich bin noch immer in einer komplizierten Beziehung mit Österreich (deshalb auch die gleichnamige Lesereihe im Café Dezentral in Wien). Und als ich deine E-Mail bekommen habe, bin ich tatsächlich gerade im Schlupfwinkel gesessen und habe Kozel getrunken.

Du schreibst Gedichte auf Bierdeckel. Würdest du dich als „Bierdeckelpoet“ bezeichnen? Was macht einen Satz wie „Ich finde dich auf jeder Tanzfläche“, den ich auf einem deiner Deckel entdeckt habe, zum Gedicht?

Von der Bezeichnung „Bierdeckelpoet“ würde ich mich gerne distanzieren. Da schwingt zu viel mit, das ich glaube ich nicht erfülle, auch gar nicht erfüllen will. Ich schreibe Texte auf Bierdeckel, so würde ich mich selbst beschreiben, „Gedichte“ habe ich sie damals, als ich das erste Mal mit der Textsorte experimentiert habe, in Ermangelung einer besseren Alternative genannt.

Es geht mir um Verdichtung, um möglichst viel Bedeutung auf wenig Spielraum. Dass sich die Leser*innen eine Geschichte vorstellen können, ein Bild bekommen von einem lyrischen Ich und einem lyrischen Du und in welcher Beziehung diese beiden zueinanderstehen, wenn z. B. das Ich das Du auf jeder Tanzfläche findet. Das kann man, finde ich, entweder sehr romantisch lesen oder genauso gut als Drohung. Dieses Spannungsverhältnis interessiert mich, da will ich hin mit meinen Texten. „Schirchschön“ hat eine Freundin diesen Effekt einmal genannt. Und genau dieses Schirchschöne interessiert mich.

Was ist das Besondere des Mediums? Es schreiben ja auch andere auf Bierdeckel. Was ist der Reiz?

Das Medium „Bierdeckel“ bietet den Vorteil, dass man die Deckel und damit auch die Texte angreifen, dass man – wenn man will – Bier und andere Getränke draufstellen kann. Ich denke, dass dieser haptische Effekt ganz wichtig ist. Außerdem kann man sie leicht mitnehmen und weiterschenken. Vielleicht gibt es ja eine Person, der man mit einem Satz wie „Du bist das lauteste Wespennest in meinem Hirn“ etwas ausrichten will. Auch dafür eignet sich das Medium, denke ich.
Für mich ist Niederschwelligkeit ein wichtiges Thema. Ich will Literatur produzieren, die zugänglich ist und trotzdem viele Lesarten zulässt. Das wird durch das Medium „Bierdeckel“ zusätzlich unterstützt.

In zwei Sätzen: Worum geht’s in deinem Debüt Wie man Dinge repariert?

In meinem Roman geht es vordergründig um einen männlichen Protagonisten Mitte dreißig und seine gescheiterten Beziehungen, seine vergebliche Suche nach einer Ersatzheimat in anderen Menschen. Für mich ist es aber auch ein Buch über Abwesenheit, über Verlust und über die Sehnsucht, anzukommen (auch ohne ein Ziel zu haben).

Dein Buch könnte man auch als riesigen Stapel deiner Bierdeckelgedichte lesen, denn zahlreiche von ihnen finden sich darin eingebaut. Wann wurden die Bierdeckel einfach zu klein?

Bei meinem Schreiben ist es so: Die Sätze wandern. Zum Teil von Bierdeckeln in meine Prosa hinein, manchmal gehen sie aber auch den umgekehrten Weg. Überhaupt probiere ich einzelne Sätze gerne in verschiedenen Kontexten aus. Um zu schauen, wie unterschiedlich sie dann wirken. Nur auf Bierdeckel zu schreiben, würde mich auf Dauer nicht befriedigen. Ich brauche den Platz, den mir Prosa gibt, die Weite. In meinem Buch habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, Kurz- und Kürzesttexte neben längere Prosakapitel zu stellen, weil mich diese Mischung reizt, weil ich diese Mischung auch brauche.

Dein Text ist sehr form- und sprachbewusst: verdichtet, reflektiert, zählt und listet auf, spielt durch, wiederholt. Auch wenn Roman auf dem Cover steht, ist nicht unbedingt einer drin. Zugleich laboriert der Erzähler an seinem eigenen Roman. Ist dies für dich ein Kniff, deine eigene Poetik mitzuschreiben? Geht’s auch ums Scheitern?

Ich finde Scheitern spannend. Es gibt natürlich auch die Gefahr, es als reine Pose einzusetzen. Oder ganz arg zu romantisieren. Dass es kein Roman im klassischen Sinn geworden ist, hängt einerseits mit meiner postmodernen Prägung zusammen, andererseits mit meinem persönlichen Geschmack als Leser. Mich interessieren Sprache und Form bzw. Struktur tendenziell mehr als der Inhalt, als der Plot.

„Lieben heißt das eigene Ich zerlegen“ erscheint mir programmatisch für deinen Text und die Beziehungen zu sein. Wie hast du dein Ich angelegt? Hast du andere Perspektiven ausprobiert?

Ich kann ein Ich nur fragmentiert darstellen, erzählen. Deshalb das programmatische Zerlegen und Auseinandernehmen, auch der eigenen Erinnerungen und Gefühle. Und selbst wenn man diese ganzen Fragmente und Splitter zusammensetzt, irgendwie zusammenklebt, ergeben sie nicht unbedingt ein komplettes, stimmiges Bild. Weil Menschen auch selten komplett bzw. stimmig sind. Und immer auch bis zu einem gewissen Grad ambivalent.

Das Erzähler-Ich spricht ein Du an. Auch dieses ist trotz aller plastisch-deftigen Szenen nicht greifbar. Es ist wohl auch nicht immer ein und dasselbe Du. Stehen die Figuren für das Fluide, Zerbrechliche und Fragmentierte unserer Zeit?

Das deckt sich mit dem Gefühl, das ich dadurch vermitteln wollte. Durch das Ansprechen eines Gegenübers bzw. durch den Einsatz der Du-Perspektive ergibt sich darüber hinaus eine Verdoppelung des unzuverlässigen Erzählers. Wir können dem Ich und seinen Aussagen nicht 100 % trauen (auch weil es die Unsicherheit der eigenen Erinnerungen thematisiert), wir können seinen Aussagen über ein Du und den Sätzen, die er diesem Du in den Mund legt, aber noch viel weniger trauen. Das habe ich beim Schreiben spannend gefunden.

Ist ein friktionsfreies Wir nicht möglich?

Ein friktionsfreies Wir klingt für mich fast wie eine Drohung. Ich erlebe Reibung als etwas durchwegs Positives, Inspirierendes.

Der Beziehungsstatus, der jedem Kapitel vorangestellt ist, spielt, oft auch sehr poetisch, zahlreiche Möglichkeiten durch und ist ein hypermodernes Zugeständnis an unsere Zeit. Wie wirksam ist er für das Leben deiner Figuren?

Die Beziehungsstatus-Updates zwischen den Kapiteln sind der Versuch, den Leser*innen einen roten Faden anzubieten. Weil die Handlung in den Kapiteln nicht chronologisch erzählt wird und auch die Zusammenhänge nicht immer auf den ersten Blick klar sind. Die Textsorte „Beziehungsstatus“ hat also eine metafiktionale Funktion. Auf der anderen Seite war es für mich eine Möglichkeit, meiner Faszination für Kurz- und Kürzesttexte nachzugehen. Diese Passagen zu schreiben, war ein sehr lustvoller Prozess. Nicht zufällig hat mein Verlag beschlossen, ein paar ausgewählte Beziehungsstatus-Updates auf Postkarten zu drucken. Weil sie auch für sich alleine stehend funktionieren. Im Kontext des Romans aber helfen sie dabei, die aufgegriffenen Themen zu sortieren bzw. fungieren sie auch als eine Art Kommentar.

Wie wirksam sind dagegen Erinnerungen, Geschichte und Geschichten für die analoge Persönlichkeit des Erzählers? Zu welchem Zeitpunkt ist er „zersplittert“?

Das spannende an Erinnerungen ist, dass sie nicht automatisch stimmen müssen. Dass Erinnerungen an sich etwas Zersplittertes sind. Die Art und Weise, wie wir Dinge abspeichern und wie wir manchmal unbewusst Abgespeichertes verändern bzw. anpassen, fasziniert mich. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang vom „memory distrust syndrome“.

Beim Wort „zersplittert“ muss ich immer auch an Kintsugi denken, an eine japanische Reparaturmethode, die mich beim Schreiben des Romans begleitet hat. Bei Kintsugi geht es darum, kaputte Gegenstände möglichst kunstvoll zu reparieren, da werden Risse und Sprünge noch extra mit Gold verziert, um zu zeigen, dass der Gegenstand durch die Reparatur noch wertvoller geworden ist (auch weil sich jemand die Zeit genommen hat, ihn wiederherzustellen).

Das Kapitel „Einen Wald geerbt“ gehört mit zu den konzisesten, längsten und intimsten. Welchen Stellenwert hat es in dem Buch? Spielst du mit der Autofiktion?

Für mich ist es Höhepunkt des Romans, hier prallen alle Handlungsstränge aufeinander. Entsprechend atemlos und treibend habe ich den Rhythmus angelegt. Ich spiele nicht bewusst mit Autofiktion, aber sie ist ein Teil meines Schreibens. Und gerade dieses Kapitel hat eine hohe Dichte an autobiografischen Splittern.

Warum wird so viel getrunken? Was verbindet Alkohol und Literatur?

Beim Schreiben und beim Trinken geht es um Rausch. Wenn ich schreibe, brauche ich keinen Alkohol. Im Buch ist das Trinken immer auch eine Ersatzhandlung.

Einen unspezifischeren Begriff als „Dinge“ (siehe Titel) gibt es kaum. Er ist auch ein Alleskönner-Begriff. Was bedeutet er für dich?

„Dinge“ in diesem Zusammenhang ist natürlich ein Platzhalter. Weil es um die vielen Beziehungen des Protagonisten geht, die irgendwann kaputt gegangen sind, zum Teil unwiederbringlich (wie im Fall des Vaters). Ich wurde schon gefragt, warum das Buch nicht „Wie man Dinge nicht repariert“ heißt. Es wäre der ehrlichere Titel, vielleicht. Weil repariert wird tatsächlich wenig. Eher das Gegenteil.

„Alles, was man schreibt, ist auch eine Liebesgeschichte.“ Ja?

Das ist zumindest das Fazit des Protagonisten ganz am Ende des Romans. Ich selbst bin mir da noch nicht ganz sicher.

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Wenn der Schnee noch nicht ganz weg ist

Wenn der Schnee noch nicht ganz weg ist, wenn sich der letzte Schnee in grauen Gatsch verwandelt hat, wenn jede Eisplatte, auf die ich steige, THE ONE sein könnte, die eine Eisplatte, auf der ich ausrutsche und mir den Schädel aufschlage, mir den Schädel spalte, weil ich in einem blöden Winkel gegen ein parkendes Auto stürze, wenn der letzte Schnee schon fast nur mehr ein Geruch ist, wenn ich Werbeanzeigen auf Tinder für die Dinge von meinem Amazon-Wunschzettel bekomme, die mir meine Familie nicht zu Weihnachten geschenkt hat, wenn mir meine Lektorin sagt, ich sei wie ein Selbstbedienungsladen und mit ihrer rechten Hand eine Bewegung macht, als würde sie in mich hineingreifen, wenn das letzte Bier nach der Sperrstunde leer wird und ich den Bierdeckel zwischen meinen Fingern zerrieben habe, wenn mein Handy anzeigt, dass ich noch 69 % Akku habe und keine neue Nachrichten, auch kein SUPERLIKE, und warum schaut sich niemand meine Instagram-Storys an, wenn mein bester Freund schreibt, ich soll ihn bald wieder im Waldviertel besuchen, sein Sohn kann jetzt schon gehen, sie verbringen viel Zeit am Kinderspielplatz, und dann schickt er mir ein Foto von einer Sandkiste mit löchrigen Plastikkübeln und kaputten Plastikschaufeln, wenn meine Therapeutin sagt, ich soll mir die Vergangenheit als eine Art Fluss vorstellen, als einen FUCKING FLUSS, musst du dir vorstellen, ich meine: was stimmt mit meiner Therapeutin nicht, ich denke dann meistens an die Salzach oder an den Donaukanal, an die Stelle direkt vorm Flex zum Beispiel, wenn es im Supermarkt bei mir ums Eck Schwedenbomben in Aktion gibt: 2+1 GRATIS, wenn ich beim Aufräumen den Schuhkarton finde, in dem ich das aufblasbare Herz aufbewahre, das du mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hast, das aufblasbare Herz, das wie eine ganze Packung Kondome riecht und dem immer die Luft ausgeht, wenn ich im Wartezimmer in die Augen der anderen Menschen schaue, wo in Pupillenwasser eingelegt die Diagnosen überwintern, wenn ich die Röntgenbilder gegen das Licht halte wie eine Schatzkarte und das X suche, wo ich nur tief genug graben muss, wenn James Murphy von LCD Soundsystem singt: BREAK ME INTO BIGGER PIECES, wenn mich jemand an der Supermarktkassa fragt, ob das ALLES ist, wenn ich eine Bierflasche mit dem Feuerzeug aufmachen will, abrutsche und stattdessen das Feuerzeug mit der Bierflasche aufmache, wenn ich vergesse, wie tief man sich mit Papier schneiden kann, wenn ich ein T-Shirt finde, das du zusammengefaltet hast und an Origami denken muss, an Kraniche mit Rotweinflecken, an Kraniche mit Lippenstiftflecken, wenn mich Microsoft Word anschreit „Machen Sie genau dort weiter, wo Sie aufgehört haben“ oder mein Browser nachfragt, ob ich WIRKLICH alle Tabs schließen will, wenn jemand „Wonderwall“ singt in der Karaokebar kurz nach Mitternacht und ich währenddessen (für ca. 4 Minuten und 19 Sekunden) aufs Klo gehe, wenn ich in meinen Spam-Ordner Werbung für einen „Kratzerentferner“-Filzstift finde und mir dabei deinen Rücken vorstelle, wenn der Aschenbecher übergeht und der Wind, der sich durch das gekippte Fenster zwängt, die Tschickstummel in eine kleine Lawine verwandelt, wenn alles kippt, wenn mir jemand versucht zu erklären, wie offene Beziehungen funktionieren, und ich an Flaschenöffner denke und an Schraubenzieher, an ein Pflaster, das man nicht schnell genug runterzieht, wenn ich den Flugmodus bei meinem Handy deaktiviere, wenn ich den Inhalt des Staubsaugers in den Restmüll kippe und da vielleicht noch ein Haar von dir dabei ist, wenn draußen vor meinem Fenster Hagelkörner vom Blech der Autodächer wegspringen, wenn Spotify mir schreibt „Please go online to load home“ und ich mich an das Gewicht deiner Wohnungsschlüssel in meiner Hand, in meiner Hosentasche erinnere, und mir einfällt, dass ich noch immer weiß, wie viele Treppen bis zu deiner Tür oder wie lange der Lift braucht, wenn ich ein Polaroid-Foto finde, auf dem meine föhngetrockneten Augen in deinen 40-Grad-Buntwäsche-Augen untergehen, wenn ich ein Mayröcker-Buch aus dem Regal ziehe und auf ein anderes Mayröcker-Buch neben meinem Bett lege, wenn ich zum Beispiel das STILLEBEN auf das HERZZERREISSENDE DER DINGE lege, dann (aber wirklich nur dann) denke ich noch an dich, dann schreibe ich deinen Namen in den grauen Gatsch und will dir sagen, dass ich froh bin, die meisten meiner Extraleben mit dir verbracht zu haben, wenn der Schnee noch nicht ganz weg ist.//

 

  • Martin Peichl wurde 1983 im Waldviertel in Österreich geboren, unterrichtet Deutsch, Englisch und wissenschaftliches Schreiben in Wien. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Veranstalter der Lesereihe „In einer komplizierten Beziehung mit Österreich“. Verwendet Twitter als Notizbuch und schreibt Gedichte auf Bierdeckel. In der Edition Atelier erschien im Frühjahr 2019 der Roman Wie man Dinge repariert.

Martin Peichl im Netz: Twitter I Instagram I Bierdeckel-Blog

 

 

Senta Wagner
(Foto des Autors © Alexander Lausch)

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