Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller (Haymon Verlag)

Der Einstieg in Oleksij Tschupas Roman Märchen aus meinem Luftschutzkeller (Haymon Verlag) ist heftig: „Wohnung 12 / Flotter Dreier“ ist das erste Kapitel überschrieben, und es beginnt so: „Fast alles, was in der Wohnung Nummer 12 veranstaltet, gesagt, gedacht und getan wurde, fiel unter die philosophische Kategorie Nebel.“ In dieser Nebel-Wohnung ist etwas los, und zwar seit vor dreißig Jahren, unmittelbar vor der Perestroika, Vira Labuha ins Haus eingezogen war. Gewalt versteckt sich zwischen den Zeilen und in den Möbelstücken, denn Vira, die bei ihrem Einzug „noch ganz passabel“ ausgesehen hatte, hielt sich weder an Ruhezeiten – schließlich war sie Heavy-Metal-Fan – noch schreckte sie vor Gewalt zurück. Entsprechend wurde sie von allen gefürchtet. Daran änderte sich auch nichts bis zu dem Tag, als der junge Bankmitarbeiter Serhij Platonow den Auftrag erhielt, nachzuprüfen, warum die Kundin Vira Labuha ihren Vertrag nicht einhielt und ihren Kredit nicht zurückbezahlte. Serhij wusste von gar nichts, als er an einem Samstagmorgen, ausgerüstet mit einem Stadtplan, loszog. Entsprechend groß war sein Schock, als er beinahe in Blut, Urin und Fusel vor der Wohnungstür stecken blieb und bald schon nach einem ohrenbetäubenden Knall einen heftigen Schmerz in der Schulter spürte. Denn Labuha und ihr Kumpan kannten nichts, schon gar nicht, wenn so ein Schnösel vor der Tür stand, und an Waffen wie Flinte und Fleischerbeil fehlte es ihnen nicht. Nur knapp kam Serhij mit dem Leben davon, dank der Polizei, die gerade noch rechtzeitig eintraf und ihn mitnahm. Dass sie nichts unternahm, musste Serhij zur Kenntnis nehmen, was blieb ihm schon anderes übrig.

Auf den vier Etagen des Hauses befinden sich je drei Wohnungen, in jeder Wohnung verbergen sich die Geschichten, die der 1986 in der Ostukraine geborene Autor Oleksij Tschupa erzählt. Unter ihnen sind Unsterbliche wie Gerhard Frei, geboren 1611, der aus einer Familie von Zauberern stammend weiterhin sein Unwesen treibt. Oder Bambi, der dank der Vermittlung einer Freundin, die bald schon seine Ex-Freundin ist, in die Spezialeinheit der ukrainischen Miliz aufgenommen wird und sich dort an den harten Einsätzen erfreut, bis er eines Tages zu hart zuschlägt und ihn in der Folge Gewissensbisse plagen. Immerhin könnte die Frau tot sein. Es wird für ihn nicht ganz einfach, sich von seinen Alpträumen wieder zu befreien.

Es gibt auch jene Geschichten, in denen fast so etwas wie Zärtlichkeit aufscheint. Etwa jene in Wohnung 17, in der Iryna mit ihrer Enkelin lebt, nachdem deren Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. An einem heißen Julimorgen hört Iryna aus dem Zimmer von Olena Musik, die sie bezaubert. „Die Musik war Wasser. Beruhigend, kühlend und ein bisschen schwermütig umfing sie den Körper und liebkoste ihn.“ Die Töne faszinierten die alte Frau. „Die Musik wurde zu einem Lebewesen, mit zartem Atem, morgendlichem Geruch und warmen Sonnenfingern. Die Musik nahm Irynas Hand und führte sie zu ihrer Enkelin.“ In Olenas Zimmer fand die Großmutter den Mut, die Enkelin nach der Musik zu fragen und ihr von den bei ihr ausgelösten Gefühlen zu erzählen. Die isländische Musik erlaubte eine Annäherung der beiden Frauen, die sich sonst eher aus dem Weg gingen. Die Nähe ließ aber trotzdem nicht zu, dass Iryna von dem erzählt hätte, was sie wirklich bewegte.

Die Enkelin setzte sich neben die Großmutter, hielt ihre Knie umklammert und beobachtete wippend, wie die Augen der alten Frau wieder diesen kalten, stählernen Ausdruck annahmen, wie sich Hals und Handgelenke mit einer Gänsehaut überzogen. Iryna lächelte zufrieden und trommelte den Rhythmus auf dem Boden mit. Sie begab sich wieder aufs offene Meer hinaus. Sah die Insel, die vor ihr zurückwich und ihr noch keinen Zutritt gewährte.

Oleksij Tschupa überzeugt mit einer bildstarken pulsierenden Sprache. Ihm gelingt es, die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in ihrem oft absurden Alltag, der alles andere als alltäglich ist, in ihren Eigenartigkeiten zu zeigen. Die Geschichten des Romans entlarven die Absurdität des menschlichen Lebens radikal, die Direktheit, mit der Oleksij Tschupa erzählt, hat etwas Schonungsloses und weckt gleichzeitig das Interesse für das Haus und die darin wohnenden Menschen in einem brütend heißen Juli im Donbass.

Der Roman war als Kandidat für die Vorauswahl der Hotlist 19 nominiert.

Liliane Studer

 

  • Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Innsbruck: Haymon Verlag 2019. 192 Seiten, gebunden. 19,90 Euro.

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