Tine Høeg: Neue Reisende (Literaturverlag Droschl)

Alles neu macht der Mai. Bücher, Blüten, Menschen, Schreibweisen, Freiheiten. In dem Romandebüt Neue Reisende der Mitte dreißigjährigen dänischen Autorin Tine Høeg findet sich das Neue nicht nur im Titel, sondern ist auch die Stimme eine erfrischend neue. Und zu all dem passt am besten: eine neue Buchgestaltung. Der Literaturverlag Droschl macht auf jung und zeitgemäß, Farbenglanz, großes Autorinnenfoto rückseitig, Klappbroschur.

Høeg verzichtet: zunächst auf eine verschwenderisch ausformulierte Geschichte. Ihr Buch ist ein Leichtgewicht und steht für Formbewusstsein, für Gleichwertigkeit des Erzählten. Es gibt weder Punkte noch Kommas, es gibt Kleinschreibung (bis auf Eigennamen) am Zeilenanfang, aber es gibt sie, die Interpunktion. Sternchen am Seitenanfang läuten die kurzen, kaum nie mehr als eine Seite langen Szenen ein. Høegs Text bewegt sich im Rhythmus der Atemzüge der Schreibenden, es bremsen allenfalls Doppelpunkte, Gedankenstriche, Umbrüche. All dies gibt eine Ahnung davon, wie eine junge Frau spricht, fühlt und denkt, die zwischen ihrem Beruf und einer leidenschaftlichen Affäre ausfranst und taumelt – in kurzen und Kürzestsätzen, spiegelbildlich zur Kapitellänge. „es ist als würde mein Körper nur existieren / wenn er seinen berührt // und sonst bin ich nur flüchtiger Nebel.“

Wie im Zeitraffer schildert sie die vier aufregenden Herbst-Winter-Monate, die die Struktur des Romans vorgeben. Zu Beginn fallen der Antritt als angehende Lehrerin für Dänisch und das Kennenlernen eines älteren, verheirateten Mannes im gemeinsamen Pendlerzug mit Karacho in eins. Der Fremde wird zum Du des Textes. Der Sex mit ihm findet in der Zugtoilette statt, meistens, auch im Park, zu Hause bei ihr. Ab diesem Moment wird das öffentliche schulische und familiäre Leben der Erzählerin parallel zu ihrem heimlichen geführt. Sie pendelt, einmal eingestiegen in den Zug, vom einen zum anderen. Die Zugfahrt wird sinnbildlich für ihren Emanzipationsprozess stehen. Das Innehalten, Nachdenken, Genießen und Verzweifeln der Protagonistin findet in den Leerzeilen zwischen den Zwei- und Dreizeilern statt, also in einem (Weiß-)Raum, den die Lesenden mit ihrer Fantasie ausfüllen können. Dass Tine Høeg auch Gedichte schreibt, merkt man jeder Faser ihres Buches an.

Grundsätzlich ist die Verfasstheit der namenlosen Erzählerin prekär und fragil: Sie agiert an der Schwelle zum Erwachsensein, es schmerzt, sie ist rastlos, wie ihre Mutter moniert. Schwester und Schwager stehen kurz vor der Hochzeit. Sie kann sich allenfalls in eine heile Beziehung hineindenken. Von ihren Schülern gelingt es ihr kaum, sich abzugrenzen, weder hinsichtlich Aussehens noch Autorität, sie findet nicht in ihre Rolle. Stattdessen verliert sie sich in deren Ungezwungenheit. Die Autorin scheint eine Diagnose der Zeit zu wagen, in der Lebenstauglichkeit verlangt wird von Menschen, die noch gar nicht so weit sind. Die Fragezeichen sind genau gesetzt. Die Fragen richten sich an das Selbst, „ja wer bin ich?“, befragen den eigenen Lebensentwurf, Sehnsüchte, aber auch Konventionen, den Druck der Eltern und die Anforderungen des Berufs. Vielleicht geht alles ja auch anders?

*

das vierte Mal als ich dich nackt sehe

bleibt der Zug stehen

wegen eines Personenschadens
irgendwo auf der Strecke

so haben wir mehr Zeit sagst du
und hebst mich
neben dem Waschbecken hoch

ich berühre deine Haare
und denke plötzlich an

deinen Kopf

getrennt vom Körper

Die Wochen fliegen dahin, akribisch notiert die Erzählerin die Male, an denen sie ihren Lover nackt sieht. Akribisch, wenn er nicht im Zug ist. Es sind dies Erzählanker. Was die Regeln der Affäre betrifft, stammen sie von dem Mann und werden bereits im Eingangszitat festgelegt: „du kannst mir nicht schreiben / ich schreibe dir.“ Nach dem Motto: friss oder stirb. Einmal gesteht der Mann dennoch eine Verliebtheit ein, ein anderes Mal könnte sich die Erzählerin mit der betrogenen Ehefrau Maria eine Ménage à trois vorstellen: „vielleicht könnten wir / uns alle lieben.“
Stets imaginiert sie sich, ziemlich obsessiv sogar, in die Familie ihres Liebhabers hinein, ein besonderer Fokus liegt auf der kleinen Tochter, die sie nicht hat mit ihm. Das Mädchen ist Teil ihrer plastischen Träume. Überhaupt gibt es andauernd Minimalverschiebungen zwischen Realität, Fantasie und Traum – was einen besonderen Reiz von Høegs Roman ausmacht.
Als sich eines Tages alle vier begegnen ist das hochnotpeinlich. Da hilft nur gute Situationskomik. Schließlich überkommen Scham und Eifersucht die Lehrerin, Betäubung durch Alkohol und Zigaretten sowie Gewaltausbrüche gegen ihn verdrängen das Leichte.

Ein Buch zum Hin- und Wegsein. Direkt, kapriziös, zeitgemäß, schmerzhaft schön. Lebensentwürfe werden ausgelotet, gegeneinander abgewogen. Wo der eine schon gefestigter erscheint, steigt die andere gerade erst ein in den Zug: Richtung Aufbruch ins Neue.

Senta Wagner

  • Tine Høeg: Neue Reisende. Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich. Graz: Literaturverlag Droschl 2020. 198 Seiten, Klappbroschur. 19 Euro