Kristin Dimitrova: Wenn du ankommst, ruf mich an (INK PRESS)

Im Züricher Verlag INK PRESS gibt es seit seiner Gründung im Jahr 2015 eine sehr interessante Bulgarische Reihe zu verfolgen. Das sechste und damit neueste Buch stammt aus der Feder von Kristin Dimitrova (geb. 1963), eine der spannendsten Erzählerinnen des Landes. 21 Texte sind in dem Band Wenn du ankommst, ruf mich an versammelt, ausgewählt und übersetzt von Viktoria Dimitrova Popova, die auch die Herausgeberin der Reihe ist. Die Cover werden von Schweizer KünstlerInnen gestaltet, das vorliegende stammt von Maja Hürst wie auch die Schwarz-Weiß-Illustrationen, die jeder Erzählung vorangestellt und eine schöne Ergänzung sind. Sie bereiten vor, fassen zusammen, spiegeln und erfreuen auch einfach das Auge.

Dimitrovas Erzählungen haben eines gemeinsam: Ihre Heldinnen und Helden sind einsame, unter ihren nächtlichen oder nicht erfüllten Träumen leidende, sich irgendwie durchschlagende, von den Zeitläuften gebeutelte Menschen. Es sind alltägliche Figuren ohne besondere Eigenschaften. Sie arbeiten etwa als Sekretärin, Verkäuferin, Anwalt, es gibt einen Studenten, Mutter und Tochter, Großvater und Enkelin – Letztere zähle ich hier unter den Berufen auf, denn die verwandtschaftlichen Beziehungen haben etwas von Arbeit und/oder Hierarchie.

Es gibt Kinder, die unmenschlich grausam sind, es tauchen Tiere auf, deren Schicksal nicht besser ist als das der Menschen. Und doch, unter der desolaten Oberfläche tragen sich Dinge zu, die witzig sein können, von entwaffnender Ironie, bizarr. Manche Erzählungen bewegen sich durch Absurdistan, manche sind überzeichnet oder steigern sich in dramatische Höhen, die plötzlich abbrechen. Sie spielen mit der Eitelkeit, der Eifersucht. Ihnen gemein ist auch, dass in den letzten Sätzen oder Worten einer Geschichte eine Wendung stattfindet, die häufig das Gelesene wieder in Frage stellt, ein neues Licht wirft, kurz den Atem stocken lässt. Die Autorin spielt gekonnt mit den Erwartungen ihrer LeserInnen. Sie beherrscht die Kunst des doppelbödigen Erzählens, der Überraschungen.

Die persönlichen Schicksale sind eingebettet in einen gesellschaftlichen Kontext, das liest sich so:

Es schien, als spielte sich zwischen den Gehenden ein unangekündigter Wettlauf ab. Ein Wettlauf, der in grauer Vorzeit begonnen hatte und noch lange andauern würde, wer weiß, wie lange. Ein Wettlauf zu irgendeinem gemeinsamen Ziel, das sich abhob wie der dunkle Punkt in jedermanns Auge.

Ein weiteres Thema neben Heimat(losigkeit) und Migration sind die Medien und die damit verbundene Aufspaltung oder Verdopplung der Welt in Realität und Vorstellung. Wie fügt der einzelne Mensch sich ein, wie bewertet er das, was er liest, hört? Wie integriert er Informationen in sein Denken? Beispiele hierfür sind die Erzählungen „Die Werbemenschen“ und „Die Körper der Leute“. Bewegen sich die Werbemenschen durch Scheinwelten, die Reklamespots gleichen und Welten sind, aus denen sie nicht ausbrechen können; erfährt eine Kosmetikerin vom Tod eines Kunden, den sie am selben Tag noch enthaarte. Was eine blutige Angelegenheit war.

Tödlich getroffen in seiner enthaarten Brust und im Oberschenkel. Zuerst kam es mir vor, als sei ein Fehler passiert. Am Mittag war er noch quicklebendig gewesen. Dann hatte ich wieder das Gefühl, dass alles wahr war, ich aber in zwei verschiedenen Leben lebte. Im einen ist die Natter am Leben, im anderen gibt´s ihn überhaupt nicht, und ich schaue Nachrichten. Ich warf die Fernbedienung beiseite und lief rüber in die Praxis.

Diese Überlappung von Realitäten, ob von außen kommend oder durch Träume produziert, ist der Sound, der unter den Worten liegt und der die Erzählungen sehr lesens- und bedenkenswert macht. Die Figuren, die zunächst so alltäglich und normal wirken, werden zu konturierten Individuen. Man kann sie verabscheuen, mit ihnen leiden – gleichgültig lassen sie einen nicht.

Wie schön, dass das erste Buch Kristin Dimitrovas nun auch in deutscher Sprache vorliegt, übersetzt wurde es bislang in 27 Sprachen, veröffentlicht in 36 Ländern – nun kann sie bei uns entdeckt werden!

Dank an Petra Lohrmann (Zeichnungen ©Maja Hürst)

  • Kristin Dimitrova: Wenn du ankommst, ruf mich an. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Viktoria Dimitrova Popova. Illustriert von Maja Hürst. Zürich: INK PRESS 2020. 296 Seiten, Broschur.

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