Paavo Matsin: Gogols Disko (Homunculus Verlag)

Wollte man den neuen Roman von Paavo Matsin kurz charakterisieren, könnte man sagen: Schräge Typen erleben seltsame Dinge an merkwürdigen Orten. Schauplatz ist die estnische Stadt Viljandi – sie ist, wie das gesamte Estland, von einem neuen russischen Zarenreich annektiert! Und damit wären wir in der Zukunft und mittendrin im estnischen Urtrauma. Aber auch mitten drin in Gogols Disko.

Der 1970 in Tallinn geborene, heute in Viljandi lebende Schriftsteller und Literaturkritiker ist eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten seines Landes. Er scheint einen Hang zur Esoterik zu haben, die er jedoch in seinem neuen Roman trefflich aufs Korn nimmt – wie auch die Neigung vieler Osteuropäer zu ausgiebigem Wodkagenuss. Dieser mag zu den Visionen beitragen, die die Personen in Gogols Disko des Öfteren erleben. Außerdem kommt der Musik eine tragende Rolle zu in dieser Geschichte um charmante, durchgeknallte Diebe, Tagediebe, Kleinkriminelle.

Im ersten Teil führt Paavo Matsin die Personen ein, die allesamt sprechende Namen tragen. Einer der wichtigsten ist der Taschendieb Konstantin, eine Autorität unter den Dieben. Außerdem spielen ein Plattenproduzent und Sammler allerlei Devotionalien aus der Welt der Musik mit, zwei Gitarristen und Sänger, der Besitzer eines Antiquariats und ein Liebhaber der Beatles, der der legendären Band einen Tempel errichten möchte.

Die außergewöhnlichste Figur ist der auferstandene Nikolai Gogol. Ja, der Dichter selbst, entdeckt von Konstantin in der Straßenbahn. Er nimmt den Auferstandenen mit in die Kneipe namens „Roman“. Dort kommen die Gefährten zu dem Schluss, dass der Greis beschützt, d. h. sicher aufbewahrt werden muss. Dafür bestens geeignet scheint die Toilette der Kneipe zu sein. In dieser „Zelle“ richtet sich der Dichter, der ja sehr kleine Räume gewohnt ist, ein und fühlt sich sogar wohl. Hier verharrt er, während draußen das wilde Leben weitergeht, in das sich noch einige Frauen mischen. Auch sie stehen mit mindestens einem Fuß jenseits des Normalen und sorgen für weitere Verwirrung. Dieser zweite Teil, der während des Aufenthalts Gogols im „Roman“ spielt, bereitet den komplett ausufernden Schlussteil vor, an dessen Ende mehr als ein Toter und mehr als eine Einweisung in die Nervenklinik zu beklagen sein werden.

In dem turbulenten Roman finden sich herrliche Dialoge, Träume, Visionen, blasphemische Fußwaschungen und Brotkrümelverspeisungen nach Art einer Hostiengabe. Ebenso vier verschiedene Versionen der Geschehnisse, zu Papier gebracht in sogenannten „Freudenbotschaften-Evangelien“. Das mag eine Spitze gegen die fast religiöse Verehrung einiger russischer Klassiker oder auch westlicher Bands sein – oder ein Hinweis auf die Zerrissenheit der Esten zwischen Ost und West.

Paavo Matsin liebt es, filmreife Szenen zu erfinden und ein Abenteuer an das andere zu fügen, aber auch windschiefe Metaphern:

Opiatowitsch versuchte ruhig zu sprechen, aber das Echo seiner Stimme erinnerte an reifbedeckte Gitterstäbe, auf denen jemand fordernd und unermüdlich mit einem geschärften Löffel klimperte.

Gerne streut er auch fragwürdige Lebensweisheiten ein:

Seine gesamte Jugend über war er auf dem Weg nirgendwohin gewesen und seiner Meinung nach war er allmählich ans Ziel gelangt.

Die meisten Szenen spielen im Inneren eines Gebäudes – der Enge der Räume steht jedoch die überbordende Fantasie des Autors entgegen, sein Humor und Aberwitz. Gogols Disko ist nicht nur voller Bezüge zur Musik, sondern auch zur Literatur. Matsin durchstreift in seiner verrückten Disko die Felder der Politik und Geschichte, der Religion und Mystik bzw. Esoterik, der Freundschaft, der Liebe und des Todes – und das alles verpackt in eine Geschichte um einen (un)toten Dichter! Ein moderner, rasanter Roman mit vielen kuriosen Einfällen, der Seltenheitswert hat.

Dank an Petra Lohrmann (Foto Dom Tallin von David Mark)

  • Paavo Matsin: Gogols Disko. Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann. Erlangen: Homunculus Verlag 2021. 176 Seiten, Hardcover. 21 Euro

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