Jan Drees: Sandbergs Liebe (Secession)

Secession Verlag für Literatur aus Zürich ist mit seinem achtzehnten Programm in diesem Frühjahr rechnerisch in einem Jubiläumsjahr angekommen. Tatsächlich, 2009 wurde der Verlag der „Abspaltung“, im Sinne der Wortbedeutung, gegründet: So lange gibt es diese literarisch findige, streitbare, international ausschwärmende Secession schon, seit 2014 unter der Leitung von Christian Ruzicska und Joachim von Zepelin.
Vor zwei Jahren, wir erinnern uns mit Freude, stand der wunderbare, elegant komponierte Soundtextband HALB TAUBE HALB PFAU von Maren Kames auf der Hotlist 2017 (zur Besprechung).

Zurück zum Frühjahr, das noch ein Winter ist, bei Secession hat es längst begonnen. Mit Sandbergs Liebe des deutschen Journalisten Jan Drees. Bis März erscheinen dann noch weitere fünf Bücher von „neuen Autoren des Verlags“ aus fünf Ländern. Der Fokus des Programms kreist um das Thema der „zunehmend virtuellen Kommunikation, die unendlichen Platz schafft für zersplitterte Selbstbilder, für Du-Projektionen und Wir-Behauptungen“. Kurz: Ästhetisch und vielstimmig nimmt man sich der herrschenden „Unübersichtlichkeit“ an./sw

Jan Drees: Sandbergs Liebe

Als die Dating-App Kristian Sandberg mit Kalina verknüpft, deutet wenig auf die Katastrophe hin, die das zufällige Aufeinandertreffen im digitalen Raum zur Folge haben wird. Jan Drees erzählt davon, was Menschen sich antun können, und er beleuchtet die fatalen Folgen emotionaler Gewalt.

Kristian ist ein Literaturagent auf der Suche nach einer innigen Beziehung. Kalina ist Zahnärztin und eine aktive, feinfühlige Frau. Die Anziehung, die beide füreinander empfinden, lässt sie einander schnell näherkommen und schon nach kurzer Zeit sagt Kalina zu Kristian: „Du darfst nie wieder gehen.“ Beide sind Versehrte, Bindungstraumatisierte, die im anderen etwas suchen, was sie nicht aus eigener Anschauung kennen: Geborgenheit, Akzeptanz, tiefe Verbundenheit, Liebe.
Erst in jüngster Vergangenheit beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass emotionale Gewalt ganz ähnliche Schäden anrichtet wie körperliche Gewalt. Jan Drees, Redakteur beim Deutschlandfunk, legt vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen in Sandbergs Liebe ein besonderes Augenmerk auf das Phänomen des Gaslighting. Im Fall von Kristian und Kalina beginnt es harmlos mit doppeldeutigen Situationen, die noch nicht sofort als Gewalt erkennbar sind. Stück für Stück aber entfaltet der Roman eine hochgradig dysfunktionale Beziehungsstruktur, die Kristian in seinen Grundfesten erschüttert. Was er auch tut, Kalina negiert seine Wahrnehmung, sie unterstellt ihm Gewalt, sie beginnt, seinen Freundeskreis zu kontrollieren, weil er ihr vermeintlich Anlass dazu gibt. Wer damit lebt, dass die eigene Wahrnehmung immer wieder untergraben wird, lernt, an sich und seinen Sinnen zu zweifeln. Erinnere ich mich richtig? Bin ich vielleicht wirklich der Mensch, den der andere aus mir macht? Der Roman zeichnet beklemmend die Erschütterung dieses Vertrauens nach. Man möchte „Urvertrauen“ schreiben und weiß, dass es beiden an genau dieser Form des Glaubens an wohlwollende Umstände und Menschen mangelt.
Kristian nimmt in dieser Beziehungskonstellation die Position der Leinwand ein, auf die Kalina ihre Szenarien projiziert. Er ist passiv und verzweifelt darum bemüht, den Lebensstil zu imitieren, von dem er hofft, Kalina finde ihn nicht „zu studentisch“. Diese Transformation und das Ausradieren des eigenen Selbst im Angesicht einer vermeintlich erfüllenden Beziehung mitzuverfolgen, ist schmerzlich. Das Beieinandersein ist von einer erstickenden Ausschließlichkeit, Kristian und Kalina leben so stoisch aufeinander bezogen, dass von außen kaum in dieses destruktive Räderwerk eingegriffen werden kann. Sandbergs Liebe schildert, welche verheerenden Verletzungen psychische Gewalt verursachen kann. Nicht nur in der vordergründig geschilderten Beziehungskonstellation, sondern auch in den Beziehungskonstellationen, die ihr vorausgegangen sind. Der Roman macht es sich nicht so einfach, die Katastrophe aus dem Nichts zu imaginieren, er macht auch ihre Wurzeln sichtbar.

Sophie Weigand
(gekürzt und adaptiert; Originalbeitrag erschienen auf literaturen)

  • Jan Drees: Sandbergs Liebe. Zürich: Secession Verlag für Literatur 2019. 190 Seiten. Auch als E-Book.

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