Richard Spruce: Aufzeichnungen eines Botanikers am Amazonas und in den Anden (Verlag der Pioniere)

 

Alfred Russel Wallace war nicht nur ein bedeutender Evolutionstheoretiker, er war auch ein wahrer Freund: Weil der britische Botaniker Richard Spruce zu Lebzeiten nicht mehr dazu kam, seine ausufernden Aufzeichnungen – Niederschlag einer fünfzehnjährigen Expedition an den Amazonas und in die Anden – in Buchform zu bringen, machte sich eben der Kollege Wallace ans Werk, schaffte das schier Unglaubliche und brachte 1908 in London ein zweibändiges Werk mit Spruce’ Schriften heraus. Dieses erscheint nun erstmals in deutscher Übersetzung im Verlag der Pioniere, der in diesem Jahr sein zehnjähriges Verlagsjubiläum feiert (Gespräch mit dem Verleger auf dem Hotlistblog).

Spruce, schon in seiner Heimat als Spezialist für Lebermoose anerkannt, machte sich 1849 zum Amazonas auf, nach Peru, Ecuador, Brasilien und Venezuela. Er suchte und fand immer weitere Arten. Seine Gesundheit setzte er für die Wissenschaft aufs Spiel – und für die britische Krone. Denn Spruce bekam auch den Auftrag, Samen und Schösslinge des Chinarindenbaums zu beschaffen, das daraus hergestellte Chinin war das wirksamste Mittel, um gegen die Malaria in den britischen Kolonien vorzugehen.
Spruce’ Aufzeichnungen quellen über vor haarsträubenden Details, die zwangsläufig entstehen, wenn ein Greenhorn wie er – zusammen mit ein paar Eingeborenen, die ihm im Dschungel zur Hand gehen – in von Menschenhand unberührte Weltgegenden eintaucht. Der Mehrwert für heutige Leser ergibt sich aus der Unbedingtheit, mit der dieser leidenschaftliche Forscher seiner Suche nach Lebermoosen, Farnen und anderen Dschungelblüten nachgeht – auch wenn ihm Mord und Totschlag drohen, Schlangenbisse, Zeckenterror, Krankheiten und alles, was der Dschungel sonst noch zu bieten hat. Die Lakonie, mit der Spruce all diese Fährnisse erzählerisch bewältigt, ist hinreißend.

Wobei es der Botaniker ja nicht nur mit den Pflanzen hat, er ist auch Ethnologe. Ein Kapitel des fast tausendseitigen Buches ist mit „Die Kriegerfrauen vom Amazonas“ überschrieben, ein anderes befasst sich mit den „Rausch- und Aufputschmitteln der Indianer“, ein weiteres mit einem „versteckten Schatz der Inka“. In achtundzwanzig Kapitel hatte Alfred Russel Wallace Spruce’ Notizen, Reiseberichte und wissenschaftliche Beobachtungen 1908 in der zweibändigen britischen Erstausgabe eingeteilt. Die deutsche Ausgabe kommt mit einem schwergewichtigen Band aus, bewahrt die Textstruktur und reichert sie mit sechsundsiebzig historischen Abbildungen und acht Karten an. Hinzu kommen – wie stets im Verlag der Pioniere – umfangreiche Fußnoten, ein erhellendes Glossar zu Fachbegriffen und Maßeinheiten und mehrere Register mit allen erwähnten Personen, Orten und wissenschaftlichen Namen. Schließlich sollen auch heutige Botaniker unter den Lesern auf ihre Kosten kommen!

Es ist unmöglich, hier der Fülle der kleinen und großen Abenteuer gerecht zu werden, die Spruce in diesen fünfzehn Jahren am Amazonas und in den Anden erlebte und überlebte. Den Verlag der Pioniere ehrt es umso mehr, diesen opulenten Band vorzulegen, der auch noch mit herausnehmbaren historischen Landkarten aufwartet, als dort, wo Richard Spruce einst sein Leben für ein unentdecktes Lebermoos aufs Spiel setzte, heute womöglich gar nichts mehr wächst – außer vielleicht Soja: „Die uralten Wälder des Amazonas werden (spätestens mit dem Antritt der aktuellen populistischen Regierung Brasiliens) zur wirtschaftlichen Ausbeutung freigegeben“, schreibt der Verleger im Nachwort: „Welche unerforschten faszinierenden Schätze damit unwiederbringlich verloren gehen, auch davon erzählt der vorliegende Band.“

Alexander Musik

  • Richard Spruce: Aufzeichnungen eines Botanikers am Amazonas und in den Anden (hg. von Alfred Russel Wallace). Berlin: Verlag der Pioniere 2019. 960 Seiten. 59 Euro

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