Textreihe (31): Erwin Uhrmann

Mindestens ein Gebäude, ein Haus, ein Museum müssen einem auf der Stelle einfallen beim Namen Frank Lloyd Wright. Für Erwin Uhrmann, geschätzter Gast der einunddreißigsten Ausgabe der Textreihe „Indie-AutorInnen schreiben“, ist der arbeitswütige amerikanische Architekt und Visionär eine besondere Inspirationsquelle.
In den letzten Jahren ist der Wiener Autor viel gereist und hat zahlreiche Bauwerke moderner amerikanischer Architektur besichtigt. Und bewundert. Jetzt sollen sie Eingang finden in sein Schreiben und der Geschichte um ein ungleiches Geschwisterpaar als obsessive Kulisse ihres eigenen Roadtrips dienen. Was Uhrmann betreibt, ist Übersetzungsarbeit: Architektursprache in literarische Sprache transferieren. Ein umfangreicher Roman mit dem Arbeitstitel Amerikanische Architektur ist am Entstehen, hier gibt es einen Auszug daraus./red.

Amerikanische Architektur

„Könnten wir nicht Erika May-Flügler, Architektin aus Wien, und Ronald von Grüntal sein, ein junger Fotograf, dessen Eltern aus der DDR geflohen sind und in Wien eine Pralinenfirma gegründet haben?“
Trudi lachte. „Wieso Pralinen?“
„Pralinen sind doch etwas Gutes. Wer Pralinen herstellt, tut niemandem etwas zu Leide.“
„Und warum reisen Frau May-Flügler und Herr von Grüntal zusammen herum?“
„Sie schreiben natürlich ein Buch über Frank Lloyd Wright. Sie wollen herausfinden, welche Einflüsse es in Europa gibt, deshalb müssen sie seine wichtigsten Häuser besuchen.“
„Gut“, sagte Trudi. „Dann musst du dir die Kamera umhängen und ständig auf Motivsuche sein.“

Als wir den Jewett Parkway verließen, erschien mir der Martin House Complex wie das Herz der Umgebung. Als hätte hier ein König gewohnt und rundherum wären die Häuser seiner Untertanen gewesen. An der Ecke stand die Episcopal Church of the Good Shepherd, die Stammkirche der Martins. Sie hatten in die schöne, aus Stein gemauerte Kirche bloß über die Straße gehen müssen. Ich drehte mich um und sah die Häuser langsam kleiner werden und hinter der Ecke verschwinden. Mein Magen knurrte so laut, dass Trudi meinte, der junge Herr von Grüntal solle sich besser als Bauchredner ausgeben und nicht als Fotograf.

Am nächsten Tag stand Graycliff auf dem Programm, das Haus, das die Martins Mitte der 1920er-Jahre bei Frank Lloyd Wright in Auftrag gegeben hatten. Dort wurden wir als Erika May-Flügler und Ronald von Grüntal am späten Nachmittag herzlich empfangen. Man gab ihnen einen ganzen Stoß Materialien, darunter Renovierungspläne, Fotografien und ein Blatt mit geschichtlichen Fakten. Jede Berichterstattung sei wichtig, sagte eine freundlich Dame, die sich als Kommunikationschefin vorstellte, man sammle schließlich Geld, um das Haus wieder in seinen Originalzustand zu versetzen. Niemand schien misstrauisch zu sein oder etwas in Frage zu stellen. Hermione, eine Freiwillige, die für Wrights Werk brannte, führte uns durch das Besucherhäuschen auf den alten Tennisplatz und zum eigentlichen Anwesen. Als ich es sah, verstand ich meine Schwester und ihre Obsession ein Stück mehr. Graycliff war links und rechts von Bäumen flankiert und stand hoch über dem Eriesee, dessen von der Sonne beschienene Oberfläche ich schon von Weitem durch die Fensterbänder des Hauses schimmern sah. Genau so hatte es Wright beabsichtigt gehabt, als wäre dieses Haus das einzige Portal zu einem der fünf Großen Seen.

Als wir die Räume im Erdgeschoss und im oberen Stock abschritten, hörte ich das noch fehlende Kapitel der Geschichte der Martins, für die Graycliff das letzte große Projekt mit Frank Lloyd Wright gewesen war. Nachdem Darwin D. Martin eine Firmenzentrale und ein Prestigeprojekt von Wohnhauskomplex mit Wright gebaut hatte, sollte Isabelle Martin ein Haus nach ihrem Geschmack bekommen. Ein Haus ganz für sie allein, die sich in Buffalo nie richtig wohl gefühlt hatte. Es wäre eine stimmige Geschichte gewesen, vom armen Seife verkaufenden Jungen, dessen kaufmännisches Talent entdeckt worden war, über den erfolgreichen Geschäftsmann und Mäzen bis zum wohlhabenden pensionierten Wohltäter, hätte nicht die Wirtschaftskrise zugeschlagen. Keine sechs Jahre nach dem großen Crash war Martin tot. Isabelle verließ das große Haus in Buffalo, das sie sich nicht mehr leisten konnte, und verbrachte die Sommer bis knapp vor ihrem Lebensende in Graycliff. Sie überlebte ihren Mann um zehn Jahre. Die spektakulären architektonischen Kniffe interessierten Isabelle wenig. Den versunkenen Garten zwischen Haus und Klippe betrat sie selten. Der Turm, der über eine Brücke erreichbar war und in dem eine Wendeltreppe hinunter zum Strand führte, war für ihre Kinder interessanter als für sie. Die Kinder waren wenig begeistert von Wright, von dem sie das Gefühl hatten, er habe ihren Eltern das Geld aus der Tasche gezogen. Nach dem Tod ihrer Mutter verkauften sie Graycliff Ordensbrüdern, die aus Ungarn eingewandert waren. Diese machten es zu ihrem Muttersitz, dunkelten die Vorderfront ab und schufen sich eine Kapelle. Die Möbel wurden verkauft. Frank Lloyd Wright kam noch einmal kurz vor seinem Lebensende, um das Haus seinen Studenten zu zeigen. Er empfahl den Ordensbrüdern, ihn für eine grundlegende Renovierung zu engagieren, fand aber kein Gehör. Vom Glanz der Martins war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Schönheit des Lebens, verkörpert durch ein Gebäude, war zu einem frommen Ort geworden. Als die Brüder Mitte der 90er-Jahre das Haus verkauften, war es zweckmäßig geworden. Jetzt wurde es wieder hergerichtet, so wie Wright es sich gewünscht hätte, wenn auch nur langsam und Stück für Stück, wenn wieder etwas Geld hereinkam. Im ersten Stock lagen die Schlafzimmer der Martins. Hermione öffnete das Fenster, das auf die Terrasse ging. Ein Arbeiter schabte an den Ziegeln am Rauchfang.

Wir verließen Graycliff über die Küche. Dort hatten Hermione und ihre Kolleginnen einige alte Kredenzen und Kästen mit den Produkten der Firma Larkin, deren Prokurist Martin gewesen war, vollgestellt: Seife, Riechsalz, Geschirrtücher und Gefäße mit nicht mehr identifizierbaren Substanzen. In der Garage stand ein alter Pierce-Arrow aus den Anfängen des Automobilzeitalters. Mit einem Wagen wie diesem waren die Martins zwischen Buffalo und Graycliff hin- und hergefahren. Sie hatten dort kaum eine der damals in solchen Kreisen üblichen Gesellschaften gegeben. Es war ihr privates Paradies, zu dem nur die Familie Zugang hatte. Wie die Wohnung meiner Eltern. Sie hatten nicht gerne Gäste eingeladen. Nicht weil sie nicht gesellig waren. Sie liebten bloß die Zeit zu Hause, das Herumsitzen in bequemer Kleidung, die losen und halb abwesenden Gespräche über einem Buch, selbst gekochtes Essen. Mir kam es vor, ich würde eine Schwade davon riechen, als ich in der Küche stand. Die dampfenden Kartoffeln, die dicke braune Sauce, das englische Gemüse. Es muss geklappert haben, wenn die Dienstboten die heißen Schüsseln zu den gedeckten Tischen brachten. Sie einen Schöpfer Suppe in einen bauchigen, verzierten Keramikteller gossen. Isabelle, die Serviette auf ihrem Schoß, mit adretter hochgesteckter Frisur und Darwin mit weißem Hemd, einem milden Lächeln auf den Lippen und sanften Falten um die Augen. Zufrieden und dennoch ein wenig gebrochen stellte ich mir die Martins vor in ihren letzten glücklicheren Tagen.

Wir hatten beide Hunger und suchten uns ein Lokal in der unmittelbaren Nähe, wo wir billige Burger verschlangen und ich, gerade beim letzten Bissen, das Gefühl hatte, ich könne nie wieder zurück in meine Waisen-Wohngemeinschaft in der grauen Stadt Wien. Kein Ort der Welt war weiter entfernt. Vor mir blitzte ein Fernseher auf, den ein bulliger Mann mit Holzfällerhemd eingeschaltet hatte, um einem Baseballspiel zu folgen.
„Was hältst du davon, wenn wir heute in Graycliff bleiben?“, fragte Trudi.
„Gibt es ein Motel dort?“
Vor dem Fernseher versammelten sich einige Männer und verfolgten gemeinsam mit der Kellnerin das Spiel. Die Männer saßen auf hohen Hockern, die Füße auf der untersten Sprosse verkeilt, und schwiegen. Nur ihre Köpfe bewegten sich, nach links, nach rechts, nach unten, nach oben. Ich sah ebenfalls zu wie schon so oft. Bei Baseball verstand ich zwar die Regeln nicht, konnte aber problemlos in jeder Phase des Spiels einsteigen und einfach in den Fernseher glotzen. Es beruhigte mich. Ich mochte die altmodische Kleidung und den vernähten Ball. Meine Lieblingsposition war der Batter, der am Diamond stand und den Ball schlug.
„Graycliff natürlich, kein Motel“, riss mich Trudi aus meiner satten Müdigkeit.
„Wo werden wir dort übernachten? Gibt es ein Zimmer im Besucherhaus?“
„Es gibt ein ganzes Haus nur für uns, du warst heute schon dort.“
„Und wie kommen wir dort rein?“
„Es gibt eine ganze Reihe baufälliger Fenster, wie du ja gesehen hast.“
„Ist das erlaubt?“
„Sei nicht so naiv, kleiner Bruder. Natürlich ist es nicht erlaubt.“
Vor meinem geistigen Auge tauchte der verwahrloste junge Mann auf, der mir vor dem Martin House Complex die Hand geschüttelt hatte. Vielleicht war auch er einmal straffällig geworden und hatte davor ein normales Leben geführt. Von einem normalen Leben allerdings war meines ohnehin schon weit entfernt. Es gab nichts und niemanden mehr, vor dem ich mich hätte genieren oder rechtfertigen müssen. Ich sah meinen Vater in Trudi. Ein Teil von ihm war mein Vater gewesen, der andere Teil ein fremder Mann mit einem Geheimnis. Meine Mutter und ich verkörperten seine harmlose Seite. Trudi war ein Teil seines anderen Lebens. Ein unbändiges, gefährliches Leben, ein Abenteuer. Mir fiel Hermione ein, die uns durch Graycliff geführt und alles erklärt hatte. Sie hatte einen großen, alten Schlüssel an einem Band um den Hals getragen. Eben diesen Schlüssel besaßen wir nicht.

Trudi sah durch mich hindurch, dann schien sie das Interesse zu verlieren und schaute auf ihr Telefon.
„Hör mal, kleiner Bruder. Wir können nicht jede Nacht in einem Motel übernachten. Das wird wohl nicht drin sein.“
„Klar, das verstehe ich ja.“
Die Kellnerin kam und füllte ohne zu fragen in mein Plastikglas Cola nach. Die Eiswürfel klirrten und ich schaute zum Fenster hinaus, wo die Sonne schon tief stand.
„Sollen wir jetzt warten, bis es dunkel wird, und dann einbrechen?“
„Wir brechen doch nirgendwo ein. Wir werden einfach hinfahren, ein Fenster öffnen, Gäste sein und morgen früh verschwinden. Du wirst erstmals in einem Haus von Mr. Wright übernachten. Das ist doch ein Grund zur Freude. Seine Häuser sind nicht als Museen gebaut worden. Man soll darin wohnen, schlafen, leben. Er hätte es so gewollt. Wir erweisen ihm heute eine Ehre, und das ist alles, was zählt.“
Ich ließ die Kellnerin noch einmal Cola nachfüllen, ehe wir gingen. Trudi legte ein paar Dollarscheine auf den Tisch und ich beobachtete, wie ihr die Kellnerin lange nachschaute. Ihr Blick klebte auf Trudis Hintern. Niemals hätte diese Frau erahnen können, was Trudi gerade im Schilde führte. Sie ging langsam hinaus, als spürte sie das Begehren im Blick der Kellnerin in ihrem Rücken, drehte sich nicht mehr um und stieg in den Wagen.

(Auszug aus dem Romanprojekt Amerikanische Architektur)

  • Erwin Uhrmann (geboren 1978) lebt und arbeitet in Wien. Von ihm erschienen bisher drei Romane im Limbus Verlag, zuletzt Toko (2019, zur Besprechung auf dem Hotlistblog), Erzählungen und Gedichtbände. Gemeinsam mit Johanna Uhrmann verfasst er Sachbücher. Er schreibt für Magazine und Kunstbücher und arbeitet immer wieder mit bildenden Künstler*innen, Filmemacher*innen und Komponist*innen zusammen. Von 2011 bis 2016 leitete er das Literaturprogramm im Essl Museum (NÖ). Er ist Mitbegründer und Herausgeber der Reihe Limbus Lyrik im Limbus Verlag.

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(Foto des Autors © Julian Tapprich)

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